Jüdischer Kulturweg

Die Villa Grötzinger Siegelsbach

Gemeinde Siegelsbach

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Johannes Sander

Die Villa Grötzinger

Die stattliche Jugendstilvilla in der Hauptstraße 68 wurde 1897 unter Einbeziehung eines älteren rückwärtigen Gebäudes errichtet und 1912 erweitert. Sie war das Wohnhaus der jüdischen Familie Grötzinger, die im Ort einen hohen sozialen Status erlangte. Den Namen Grötzinger hatte der Lebensmittel- und Haushaltswarenhändler Jacob Samuel gewählt, als die jüdischen Einwohner Badens 1809 erbliche Familiennamen annehmen mussten. 

Der Briefkopf der „Süddeutschen Öl- und Fettwarenfabrik J. Grötzinger Söhne“ von 1928 zeigt die Dimensionen, die das Unternehmen in Siegelsbach angenommen hatte.

Jacob Grötzingers gleichnamiger Enkel verlagerte seine Geschäftstätigkeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf Fette und Öle. Seine Söhne Josef und Moses erweiterten das Geschäft um die Herstellung eigener Produkte wie Schuhfett, Lederappretur und Wagenfett. Die bald zu klein gewordenen Fabrikationsräume wurden ab 1896 in den damaligen Wagenbacher Weg (heutige Bahnhofstraße 12) verlegt. Die nunmehrige „Süddeutsche Öl- und Fettwarenfabrik Jacob Grötzinger Söhne“ hatte neben den Familienangehörigen zwar selten mehr als sechs Mitarbeiter. Dennoch unterhielt sie Niederlassungen in Mannheim, Kehl, Köln, Rotterdam und Amsterdam. Ein wichtiger Kunde waren etwa die Großherzoglich Badischen Staatseisenbahnen.

Porträt des Josef Grötzinger (1855–1919), Sohn des Firmengründers Jacob Grötzinger. Privatbesitz. Aus: Heitz Michael / Röcker Bernd (Hrsg.), Jüdische Persönlichkeiten im Kraichgau, 2013, S. 88.

Seit dem Ausscheiden Josef Grötzingers aus dem Unternehmen 1903 war sein Bruder Moses Firmeninhaber, dessen Schwiegersohn Max Holland dann als Mitgesellschafter eintrat. Beide starben 1928. Auf dem jüdischen Friedhof in Bad Rappenau erinnern ihre fast identischen Grabsteine an diesen doppelten Verlust. Dennoch gelang es Moses‘ Sohn Julius Grötzinger und seiner Schwester Flora Holland, den Betrieb durch die Wirtschaftskrise zu führen. Aber nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten brachen immer mehr Kunden die Geschäftsbeziehungen mit dem jüdisch geführten Unternehmen ab. Die Familie verkaufte es 1937 weit unter Wert an die Profitta-Werke aus Waibstadt und wanderte nach Amerika aus. Nach weiteren, vor allem kriegsbedingten Besitzerwechseln etablierte sich seit 1951 auf dem Betriebsgelände der Körperpflegeprodukthersteller Mann & Schröder mit derzeit mehr als 700 Mitarbeitenden. 

Betriebsgelände der „Süddeutschen Öl- und Fettwarenfabrik J. Grötzinger Söhne“ um 1946. Foto: Gemeinde Siegelsbach.

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Berufsstruktur

Die jüdischen Siegelsbacher lebten überwiegend vom Handel, einzelne waren aber auch als Metzger oder Schneider tätig. 1720 erfahren wir im Rahmen von Ermittlungen gegen den damaligen Zoller Johann Jakob Holdermann von dem Vieh- und Fruchthändler Nathan und dessen Sohn Joseph sowie dem Schutzjuden und Trödler Jud Mayer. Zu dieser Zeit lebten bereits mehrere Familien am Ort. Aus Anlass der Annahme erblicher Familiennamen im Jahr 1809 wurden elf jüdische Familien gezählt. Auf die Frage, wie sie künftig ihren Lebensunterhalt bestreiten wollten, blieben alle Familienvorstände bei ihrer bisherigen Tätigkeit, nämlich beim Handel mit Vieh und Früchten, Ellen- und Spezereiwaren. Damit scheinen die Siegelsbacher Juden aber nicht reich geworden zu sein.
Um 1933 existierten an jüdischen Gewerbebetrieben neben der Süddeutschen Öl- und Fettwarenfabrik J. Grötzinger in der Bahnhofstraße die Viehhandlung Aron Eisenmann in der Hauptstraße 67 und das Manufakturwarengeschäft Josef Fleischmann in der Hauptstraße 82.

Auswanderung

Nach 1848 nahm die Zahl der jüdischen Bewohner kontinuierlich ab. Mit dazu beigetragen hat auch das Emanzipationsgesetz vom 15. Oktober 1862, das den badischen Jüdinnen und Juden die volle Gleichstellung, vor allem aber die freie Wahl ihres Wohnorts gewährte. Infolgedessen setzte eine starke Binnenwanderung innerhalb Deutschlands ein, noch mehr aber eine Auswanderungswelle, vor allem nach Amerika. Zwischen 1853 und 1895 betrug die Zahl der erfassten jüdischen Auswanderinnen und Auswanderer 31. Darunter befanden sich auch drei Urenkel Jakob Grötzingers, nämlich Seligmann (1883), Isidor (1885) und Jakob (1887).

Die 1897 erbaute und 1912 erweiterte Villa erfuhr nach dem Verkauf durch die Familie Grötzinger vielfältige Nutzungen: vom Kindergarten über die Post bis zum Hotel. Foto: Margrit Elser-Haft.
Detailaufnahme der Villa Grötzinger. Foto: Margrit Elser-Haft.
Detailaufnahme der Villa Grötzinger. Foto: Margrit Elser-Haft.
Detailaufnahme der Villa Grötzinger. Foto: Kurt Ottowitz.

Literatur

ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn 1986, S. 209–212.
PETZOLD Rudolf, Die Familie Grötzinger, in: HEITZ Michael / RÖCKER Bernd (Hrsg.), Jüdische Persönlichkeiten im Kraichgau, Heidelberg–Ubstadt-Weiher–Weil am Rhein–Basel 2013, S. 85–91.
PETZOLD Rudolf, Die jüdische Familie Grötzinger und die Entstehung der chemischen Industrie in Siegelsbach, in: Bad Rappenauer Heimatbote. Heimatgeschichtliche Beilage des Mitteilungsblattes, 3. Jahrgang, Juni 1991, Nr. 4, S. 28–35.
 PETZOLD Rudolf, Die jüdische Gemeinde Siegelsbach, in: Bad Rappenauer Heimatbote. Heimatgeschichtliche Veröffentlichung des Heimat- und Museumsvereins Bad Rappenau sowie der Stadt Bad Rappenau, 23. Jahrgang, Dezember 2013, Nr. 24, S. 70–79.
PETZOLD Rudolf, Siegelsbach. Ein Heimatbuch. Siegelsbach 1986.