Die „Judenburg“ oder das „Judenschloss“
Schon vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts sind Juden in Talheim bezeugt. Beispielsweise wird 1491 ein Nathan genannt, der aus der Reichsstadt Heilbronn stammte, die ihre jüdischen Bewohner im Lauf des 15. Jahrhunderts ausgewiesen hatte. Wo die Jüdinnen und Juden in Talheim ansässig waren, wird erst 1778 bekannt, als die Obere Burg, eine Ganerbenburg, zu ihrem Wohnsitz wurde.
Die Herrschaftsverhältnisse in Talheim waren komplex und schon früh stark zersplittert. Neben den im 17. Jahrhundert ausgestorbenen Herren von Talheim waren zahlreiche Ganerben an der Ortsherrschaft beteiligt. Im 18. Jahrhundert reduzierte sich deren Zahl auf zwei: den Deutschen Orden und die Herren von Gemmingen.
Die zersplitterten Herrschaftsverhältnisse Talheims spiegelten sich in fast einem Dutzend herrschaftlicher Sitze. Erhalten sind davon nur noch zwei: zum einen das ortsbildprägende Obere Schloss, die vormalige Ganerbenburg, und das weniger auffallende Untere Schloss. Die Herren von Schmidberg zu Lehrensteinsfeld waren mit dem ältesten, westlichen Teil des Oberen Schlosses („Schmidberg'sches Schlösschen“) belehnt gewesen, der an Württemberg zurückfiel, als dieses adelige Geschlecht 1777 ausstarb. Seit Württemberg im Jahr 1778 dort Juden ansiedelte und insbesondere nachdem 1821 acht jüdische Familien diesen Burgteil mit Wartturm (Schneck) und Brunnen, ebenso wie das Bet-, Wasch- und Backhaus sowie das am Berg stehende Wohnhaus mit Gärten erworben hatten, wurde das Obere Schloss auch „Judenburg“ oder „Judenschloss“ genannt. Diese Begriffe blieben weiter bestehen, auch noch nachdem um 1900 die letzte jüdische Familie die Burg verlassen und ins Dorf gezogen war. Noch 1912 erscheint das ortsbildprägende Gebäude auf einer von einem Heilbronner Verlag gedruckten Ansichtskarte als „Judenschloss“.
Von Horkheim nach Talheim
Die Herzöge von Württemberg siedelten 1778 im westlichen Burgteil zunächst vier, später acht jüdische Familien aus Horkheim an. Dieser Teil wurde nach den vorherigen Besitzern auch Schmidberg'sches Schlösschen genannt.
Das Gebäude muss sich in einem sehr schlechten Zustand befunden haben, ein Bericht spricht von einem „alten sehr baufälligen dreistöckigen Schloß“. Dieses als Lehen anzubieten bzw. zu verpachten, schien ausweglos. Schließlich fanden sich in Horkheim einige Judenfamilien, die sich bereit erklärten, dorthin zu ziehen. In den folgenden Jahren baten weitere Jüdinnen und Juden aus Horkheim um Aufnahme in das Schloss, sodass 1790 bereits neun jüdische Familien mit 40 Personen und 1798 insgesamt 53 Personen dort lebten.
Die Ganerbschaft endete 1806, als Talheim ganz an das Königreich Württemberg überging. Infolgedessen wurde Jüdinnen und Juden auch der Grunderwerb gestattet, und sie waren nicht mehr gezwungen, ausschließlich auf der Burg zu wohnen. 1816 erwarb wohl als erster Aron Salomon die Hälfte des sogenannten Emendörffer Hauses (ehemaliges Gasthaus „Zum Ratskeller“).
Die Mesusa
Eine deutliche Spur jüdischen Lebens ist der am rechten Türrahmen des Eingangs zum westlichen Burgteil erhaltene Mesusaschlitz, der in Augenhöhe schräg nach innen verläuft. Er diente zur Anbringung der Mesusa, einer kleinen länglichen metallenen Kapsel mit eingelegtem Pergamentstreifen, auf dem das wichtigste Gebet der Juden (5. Mose 6, 4−9) geschrieben steht. Beim Eintritt in das Haus berühren gläubige Jüdinnen und Juden die Mesusa, um sich der Gebote Gottes und des göttlichen Schutzes zu vergewissern.
Vom Betsaal zur Synagoge
Der Betsaal der jüdischen Gemeinde befand sich zunächst im zweiten Obergeschoss des württembergischen Teils der Burg. Durch die wachsende Zahl der Juden wurde dieser jedoch bald zu klein. Deshalb genehmigte ihnen die württembergische Regierung, in ihrem neu erbauten Back- und Waschhaus an der Nordwand des Burghofs ein „Betzimmer“ im Obergeschoss einzurichten. Die allein die Dorfherrschaft beanspruchenden Ganerben, insbesondere der Deutsche Orden, betrachteten dies als Eingriff in ihre Rechte. In der Folge verhinderten sie die für den 4. Januar 1793 geplante Einweihung des Betsaals, indem sie dessen Fenster und Läden herausbrechen und die Kultgegenstände konfiszieren ließen. Das Gebäude war drei Jahre lang eindringendem Regen, Sturm und Schnee ausgesetzt. Erst 1796 kam die Erlaubnis, das Gebäude zu reparieren, und Anfang Dezember 1803 erhielt die jüdische Gemeinde die zehn Jahre zuvor beschlagnahmten Gegenstände zurück.
Da der Betraum der wachsenden Gemeinde bald nicht mehr genügte, wurde das Bet-, Wasch- und Backhaus 1836 völlig umgebaut. Neben der vergrößerten Synagoge befanden sich nun auch die Mikwe sowie die Schule und die Lehrerwohnung im unteren Teil des Gebäudes. 1870 wurde die Synagoge nochmals umfassend renoviert.
In der Pogromnacht am 9./10. November 1938 kam es in Talheim zu keinen Ausschreitungen. Erst in der darauffolgenden Nacht demolierten Sontheimer SA-Leute die Synagoge, verbrannten Ritualien und Bücher auf dem Kelterplatz, verwüsteten jüdische Wohnungen und misshandelten die Bewohnerinnen und Bewohner. Nach den Ereignissen beim Novemberpogrom konnten die im Ort verbliebenen Jüdinnen und Juden zu Gottesdiensten noch im jüdischen Gasthaus „Löwen“ in der Hauptstraße 9 (Haus besteht nicht mehr) zusammenkommen. Die Deportationen in den Jahren 1941/42 setzten dem jüdischen Leben in Talheim ein Ende.
Zum Gedenken
Die in der Pogromnacht demolierte Synagoge wurde während des Zweiten Weltkriegs als Lager für Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter genutzt. Das zunehmend verfallene Gebäude wurde 1952 abgebrochen, nachdem bei einem Unwetter das obere Stockwerk, in dem sich der Betraum befand, und Reste des Daches eingestürzt waren. Eine Gedenktafel an der Burgmauer erinnert seit 1983 an den Standort der Synagoge.
Literatur
ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn 1986, S. 230–235.
Artikel zu Talheim auf der Internetseite der Alemannia Judaica; Link öffnen [Abruf am 20.12.2022].
HAHN Joachim / KRÜGER Jürgen, Synagogen in Baden-Württemberg. Teilband 2, Orte und Einrichtungen von Joachim Hahn. Hrsg. von Rüdiger Schmidt, Badische Landesbibliothek, Karlsruhe, und Meier Schwarz, Synagogue Memorial, Jerusalem. Stuttgart 2007, S. 472–475.
NEBEL Theobald / DÄSCHLER-SEILER Siegfried, Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Talheim. Ein Beispiel für das Schicksal des Judentums in Württemberg. Hrsg. von der Gemeinde Talheim, 2., neubearb. Aufl. Talheim 1990.
SAUER Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale. Hrsg. von der Archivdirektion Stuttgart, Stuttgart 1966, S. 173–176.