Jüdischer Kulturweg

Die jüdische Gemeinde Stein am Kocher

Stadt Neuenstadt am Kocher

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Lukas A. Stadler

Die jüdische Gemeinde

Wie viele Orte im heutigen Landkreis Heilbronn war auch Stein am Kocher zunächst Teil unterschiedlicher Herrschaften. Nachdem das Erzbistum Mainz 1690 den Ort  an verschiedene Adelshäuser verpfändet hatte, fiel Stein 1806 endgültig an Baden. Anlässlich der Annahme erblicher Familiennamen im Jahr 1809 lassen sich bereits 15 jüdische Familien im Ort nachweisen, deren Spuren sich wiederum bis 1679 zurückverfolgen lassen.

Plan von Stein am Kocher (Ausschnitt). Auf dem mit der Zahl 242 markierten Grundstück an der Grabenstraße stand die Synagoge/Judenschule; bei den anderen farbig markierten Häusern handelt es sich um ehemalige jüdische Wohnhäuser. Aus: Artikel zur Synagoge Stein am Kocher auf der Internetseite der Alemannia Judaica; https://www.alemannia-judaica.de/stein_am_kocher_synagoge.htm [Abruf am 07.02.2023].

Im Jahr 1841 wies die jüdische Gemeinde in Stein ihre größte Mitgliederzahl auf: 129 Jüdinnen und Juden lebten im Ort. Diese Zahl schrumpfte jedoch bis 1900 auf 15 Personen. Die meisten jüdischen Einwohner emigrierten in die Vereinigten Staaten oder wanderten in größere deutsche Städte ab. Dass dieser Trend so nicht vorhersehbar war, zeigt die Anlage eines eigenen Friedhofs außerhalb des Dorfes im Jahr 1810.
1933 lebten in Stein nur noch zehn Jüdinnen und Juden. An Gewerbebetrieben bestanden noch die Textilhandlung von Jakob Holzer und Hermann Zwang (Nr. 162) sowie die Viehhandlung von Jakob Zwang und Abraham Zwang (Nr. 164). Am 8. November 1937 wurde die jüdische Gemeinde durch Beschluss des Badischen Staatsministeriums aufgelöst, da sie nur noch vier Mitglieder zählte. Diese wurden der jüdischen Gemeinde in Billigheim zugeteilt. Die letzten beiden jüdischen Einwohnerinnen Flora und Hedwig Zwang wurden am 22. Oktober 1940 von hier nach Gurs deportiert. Zu Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden war es während des Nationalsozialismus in Stein nicht gekommen.

Die Synagoge

Die jüdische Gemeinde besaß eine Synagoge mit einer Wohnung für einen Vorbeter sowie einem Betsaal mit Galerie in der heutigen Grabenstraße (Nr. 242). Das Jahr der Erbauung ist nicht bekannt. Nach zeitgenössischen Beschreibungen handelte es sich um ein großes Haus mit Walmdach. Das Synagogengebäude war bereits 1935 verkauft worden und wurde im Zuge der letzten Gefechte im Zweiten Weltkrieg zerstört. Die Ruine wurde abgerissen, und auf dem Grundstück in der heutigen Grabenstraße nahe beim Rathaus wurden in der Nachkriegszeit Gärten angelegt.

Links: Blick auf die Kirche von Stein. Im Vordergrund rechts ist die Synagoge mit Walmdach zu erkennen. Fotosammlung Heimatverein Bunte Blätter von Stein. Rechts: Standort der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Synagoge. Foto: Eva Maria Kraiss.

Auszug aus dem Steiner Schatzungs- und Bethbuch mit Beschreibung der
Synagoge, 1770. Ortsarchiv Stein SB 111, S. 1684.

Die Judenschaft Insgemein.
Häußer und Gebäu.

Eine ganze zweystockete Behaußung, welche
zur Juden Synagog gerichtet ist, samt etwas Hof-
statt darhinter, in der Grabengassen, neben Joseph
Schweizer, und Abraham Gumpel, auch Berle Isaac,
stoßt vornen auf den Weg, und hinten auf Moises
Wollff, und gibt der allhiesig Löbl. Kellerey.

Die Helfte eines gewölbten Kellers auf dem
Hellenberg, unter des Lorenz Mosthafs
Behaußung durch aus mit Lorenz Mosthaf
betheilt, wo näheres zu ersehen, im Kaufprotokoll
parte I folio 320b
1823 von Lorenz Mosthaf parte 2 folio S 25.

Die Mikwe

Neben Friedhöfen, Synagogen und den Schächtern, also speziellen jüdischen Metzgern, die koscheres Fleisch verkauften, benötigte eine Gemeinde noch weitere Einrichtungen, um gemäß den jüdischen Religionsgesetzen leben zu können. Eine dieser Einrichtungen befand sich im Untergeschoss des Gebäudes Am Kirchberg 8. Die Rede ist von einer Mikwe, einem jüdischen Ritualbad. Im 19. Jahrhundert wurde wiederholt deren sehr schlechter Zustand bemängelt; dazu gesellte sich der (schwierige) Umstand, dass der Wasserablauf die Quellen des großen Brunnens beim Rathaus speiste.

In diesem Gebäude Am Kirchberg 8 gegenüber der Kirche war die Mikwe untergebracht. Der Eingang befand sich seitlich hinten. Fotos: Ute Mosthaf.

Ein solches Bad ist in Deutschland zumeist im Kellergeschoss eines Gebäudes untergebracht. Dies ist notwendig, denn das Becken muss durch frisches Wasser gespeist sein, wobei sich im eher regnerischeren und feuchten Deutschland ein Grundwasserbad anbietet, das auf Höhe des Grundwasserspiegels liegt. Diese Bäder waren in aller Regel sehr klein, einfach gehalten und unbeheizt. Sie boten Platz für eine Person, sodass diese komplett untertauchen konnte.
Die Mikwe dient der rituellen Reinigung. Symbolisch gereinigt werden Gegenstände, aber auch Menschen erlangen rituelle Reinheit durch das Untertauchen, vor oder nach Aktivitäten, die einen Bezug zur jüdischen Religion haben oder als unrein gelten. So wird beispielsweise Geschirr, das mit koscherem Essen in Berührung kommt, in einem solchen Bad gewaschen, nachdem es bereits gereinigt wurde. Auch ein Sofer, ein Schreiber, der Tora-Rollen beschriftet, muss eine Mikwe aufsuchen, bevor er den Gottesnamen niederschreibt. Gläubige Männer waschen sich rituell, bevor sie wichtige Feiertage begehen oder einen neuen Lebensabschnitt antreten. Auch Frauen besuchen regelmäßig die Mikwe unter anderem nach ihrer Menstruation oder nach einer Entbindung, da ein neues Kapitel des Lebens beginnt.

Besitzliste, aufgestellt nach dem Stande am 30. März 1901. Nach dieser Liste befindet sich das Frauenbad in dem unter der Wohnung der Adelheid Röderer gelegenen Balkenkeller. Mitbesitzer an dem Frauenbad war der Landwirt Martin Röser. Mitbesitzer am Wohnhaus Nr. 125 war der Landwirt Valentin Kratzmüller. Vermessungsamt Heilbronn.

Die Familie Zwang

Die seit 1827 dem Rabbinat Mosbach zugeteilte jüdische Gemeinde Stein umfasste 1824 insgesamt 94 Seelen und erreichte 1841 mit 129 einen Höchststand. 1875 wurden 48, 1900 15 und 1933 nur noch zehn Jüdinnen und Juden gezählt. Unter ihnen waren die beiden Brüder Abraham und Hermann Zwang, die ein Viehhandelsgeschäft betrieben. Abraham Zwang, der 1937 in das Konzentrationslager Dachau und später nach Buchenwald verschleppt wurde, wanderte 1940 nach Amerika aus, sein Bruder Hermann starb 1940 in einem Mannheimer Krankenhaus. Die beiden Frauen der Brüder, Hedwig und Flora sowie Floras Tochter Selma wurden am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Hedwig gelang die Auswanderung zu ihrem Ehemann Abraham in die USA, ihre Schwägerin Flora und deren Tochter Selma wurden in Auschwitz ermordet. Ilse Zwang wurde am 3. Oktober 1914 als Tochter von Abraham und Hedwig Zwang in Stein geborenund kam 1940 nach Stuttgart, wo sie  1941 Walter Oettinger heiratete. 1942 wurde sie zusammen mit ihrem Ehemann von Haigerloch aus nach Izbica deportiert und dort wahrscheinlich umgebracht. Vier der Kinder der beiden Eheleute waren schon um 1935 nach England und in die USA ausgewandert. Von den bis 1940 ausgewanderten Jüdinnen und Juden kehrte niemand mehr nach Stein zurück.

Die Familie Zwang beim Laubhüttenfest, um 1934: v. li. Selma, Viktor, Flora, Hermann, Betty, Ludwig und Jenny. Aus: Neuenstadt am Kocher mit seinen Ortsteilen Bürg, Cleversulzbach, Kochertürn, Stein am Kocher: Menschen, Straßen, Plätze. Bd. 1: Bilder von 1880 bis zur Zerstörung der Stadt 1945. Weinsberg 1984,

„Plan nach welchem Abraham Zwang ein 5 m langes Stück Wand am II. Obergeschoss an seinem Haus erbauen will“, gefertigt am 2. August 1913. Kreisarchiv Heilbronn A 3 Nr. 7116.
Situationsplan und „Plan nach welchem Hermann Zwang ein Dachzimmer in seinem Wohnhaus einrichten will“, gefertigt am 20. März 1911. Kreisarchiv Heilbronn A 3 Nr. 7116.
Schreiben der Witwe des Joseph Zwang, Herren- und Knabenkonfektion, Wetzlar, aus dem Jahr 1920. Der Gründer der Firma wurde am 6.11.1879 in Stein am Kocher geboren und fiel im Ersten Weltkrieg am 4.4.1918. Kreisarchiv Heilbronn A 3 Nr. 6137.
Monika Kolb

Flora und Selma Zwang

Im Rahmen des Ökumenischen Jugendprojekts „Mahnmal für die deportierten Juden und Jüdinnen Badens fand am 4. Dezember 2022 am katholischen Gemeindehaus St. Bernhard in Stein die Einweihung des von katholischen Jugendlichen gestalteten Gedenksteins für die am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportierten Jüdinnen Flora und Selma Zwang statt. Flora, geboren am 23. September 1879, Ehefrau des Hermann Zwang, kam über das Lager Drancy am 12.8.1942 in das KZ Auschwitz, wo sie ermordet wurde. Deren Tochter Selma, geboren am 22. Januar 1911, war in Mannheim in Stellung und wurde von dort aus nach Gurs deportiert und vermutlich in Auschwitz ermordet.
Von den zwei identischen Gedenksteinen verbleibt stets einer in der Gemeinde, der zweite wird auf dem zentralen Mahnmal in Neckarzimmern aufgestellt. Bereits am 23. Oktober 2022 hatten Jugendliche aus Stein selbst den Gedenkstein in Neckarzimmern vorgestellt. Die Balken sind in Stufenform angeordnet, um die Himmelstreppe zu symbolisieren. Die zwei Figuren stehen für Flora und Selma, die auf dem Weg zum Himmelstor sind; dieses wurde aus Tuffsteinen gebildet. 

2022 wurde dieser Gedenkstein für Flora und Selma Zwang errichtet, die in das Lager Gurs in Südfrankreich deportiert und später ermordet wurden. Foto: Elisabeth Straßer.

Quellen und Literatur

Ungedruckte Quellen:
Kreisarchiv Heilbronn A 3 Nr. 6137, A 3 Nr. 7116
Vermessungsamt Heilbronn

Literatur:
ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn 1986, S. 224–228.
Artikel zur Synagoge Stein am Kocher auf der Internetseite der Alemannia Judaica; Link öffnen [Abruf am 05.07.2021].
HAHN Joachim / KRÜGER Jürgen, Synagogen in Baden-Württemberg. Teilband 2, Orte und Einrichtungen von Joachim Hahn. Hrsg. von Rüdiger Schmidt, Badische Landesbibliothek, Karlsruhe, und Meier Schwarz, Synagogue Memorial, Jerusalem. Stuttgart 2007, S. 349–350.
JUNG Norbert, Spurensuche S: Die Juden von Stein a. K., 2. Aufl. Zaberfeld-Michelbach 1987.
Neuenstadter Nachrichten, Nr. 50 vom 15. Dezember 2022, S. 21.
Stein am Kocher 1219–2019: Geschichte und Geschichten. Hrsg.: Stadt Neuenstadt a.K. Heidelberg/ Ubstadt-Weiher/Speyer/Basel 2019.