Jüdischer Kulturweg

Die Deinhardstraße in Wollenberg

Stadt Bad Rappenau

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Leonhard Baumgartl / Petra Schön

Das Zentrum jüdischen Lebens

Die Deinhardstraße war einst das Zentrum jüdischen Lebens in Wollenberg. Hier standen die Synagoge, die Mikwe (Ritualbad) und die Häuser der jüdischen Familien. Nach dem Abbruch der in der Pogromnacht 1938 von einem SA-Trupp zerstörten Synagoge und später auch der Mikwe lässt sich die jahrhundertealte deutsch-jüdische Geschichte des Ortes nur noch erahnen. Ein von Konfirmanden geschaffenes Mahnmal beim evangelischen Gemeindehaus erinnert an die 1940 nach Gurs deportierten jüdischen Gemeindemitglieder.

Ansichtskarte von Wollenberg mit evangelischer Kirche und der Synagoge von 1825 (Gebäude mit Walmdach schrägrechts hinter der Kirche), um 1930. Bad Rappenauer Heimatbote Nr. 23, Dezember 2012.

Die 1652 begonnene Aufzeichnung der Wollenberger Dorfordnung enthält auch einen „Judeneid“. Deshalb darf angenommen werden, dass spätestens in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Jüdinnen und Juden im Ort lebten. Die Herren von Gemmingen, seit 1717 Ortsherren von Wollenberg, siedelten weitere Juden an: Sind 1717/18 acht Personen jüdischen Glaubens bekannt, waren es 1726/27 bereits 14, die alle als bettelarm bezeichnet wurden; 1759/60 ist die Rede von 20 Haushaltungen. Die meisten Familien lebten in dem 1667 erstmals erwähnten herrschaftlichen Judenhaus. Dieses könnte identisch sein mit dem später als „Langer Bau“ oder „Judenbau“ bezeichneten Gebäude, das die Wohnungen der jüdischen Familien und die Synagoge umfasste.

1978 wurde die Mikwe, die in einem eigenen Gebäude
untergebracht war, abgebrochen. Foto: Johannes Kösegi;
Rhein-Neckar-Zeitung vom 7.12.1978.

1789/90 entstand an der Stelle des baufälligen Gebäudes ein Neubau mit 13 Wohnungen und der Synagoge im ersten Stock. Dies dürfte eine lohnenswerte Investition für die Ortsherren gewesen sein, denn sie konnten daraus verschiedene Einnahmen erzielen − neben dem Judenschutzgeld etwa die Miete für die Wohnungen und die Synagoge. Dieses Gebäude brannte 1889 ab.
1825 wurde eine neue Synagoge (heute Deinhardstr. 19) und 1846 ein Mikwengebäude hinter dem „Judenbau“ erbaut. Zu diesem Zeitpunkt hatte die jüdische Gemeinde ihren Höchststand erreicht, und der Anteil an der Gesamtbevölkerung Wollenbergs entsprach rund 40 Prozent.

Plan für den Neubau des herrschaftlichen „Judenhauses“, gefertigt 1789/90. Das stattliche Gebäude brannte 1889 ab (heute Deinhardstr. 54 und 55). Archiv der Freiherren von Gemmingen-Guttenberg Nr. 1987.

Weiterführender Text

Die jüdische Gemeinde

Ein erster jüdischer Namenshinweis findet sich 1661 im Zuge einer Klagesache der Mosbacher Schwanenwirtin gegen ihren Ehemann wegen Ehebruchs, in der als Zeuge der Wollenberger Jude Jacob Egern auftrat. Der Zug der Juden nach Wollenberg hielt im Laufe des 18. Jahrhunderts unvermindert an (1737/38: 13 Haushaltungen, 1759/60: 22 Haushaltungen, 1775/76: 17 Haushaltungen 1796/97: 18 Haushaltungen), so dass die vorhandenen Wohnungen bald nicht mehr ausreichten. Da sich der 1789/90 erstellte „Judenbau“ für die Herrschaft als eine durchaus rentable Geldanlage erwiesen hatte, entschloss sie sich zum Bau eines weiteren Hauses. 1793 erwarb sie am sogenannten Eselsrain beim Hüffenhardter Weg (heute: Am Kirchberg) ein Grundstück zur Errichtung eines weiteren Wohnhauses. Dieses war 1795 bezugsfertig, enthielt sechs Wohnungen und existiert noch heute.
Wirtschaftlich waren die Wollenberger Juden im 19. Jahrhundert vor allem im Viehhandel, in der Gastronomie und im Schlachtbetrieb engagiert. In den frühen 1930er-Jahren existierten noch zwei kleine jüdische Geschäfte im Ort: das Textilwarengeschäft von Salomon und Frieda Kahn und das Eisenwarengeschäft von Adolf Heilberg.

Das 1795 erbaute „Judenhaus“ der Freiherren von Gemmingen, Am Kirchberg 4. Foto: Margrit Elser-Haft.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der im Ort lebenden Jüdinnen und Juden weiter an. Bis 1841 umfasste die jüdische Gemeinde 156 Personen, womit ihr Anteil an der Einwohnerschaft Wollenbergs bei über einem Drittel lag. Im heutigen Kreisgebiet Heilbronn lebten 1858 in 34 Gemeinden 2.961 Jüdinnen und Juden. Die meisten wohnten anteilig in Wollenberg (38,6 Prozent). Kreisweit gesehen betrug ihr Anteil an der Bevölkerung 2,6 Prozent.

Plan der Dorfmitte mit den Standorten des „Judenbaus“, der zunächst auch den Betsaal beherbergte, der späteren Synagoge am Postweg (heute Deinhardstraße) und der Mikwe. Vermessungsamt Heilbronn.

Trotz ihrer Größe hatte die Wollenberger Gemeinde keinen eigenen Rabbiner, zuständig für sie war der Neckarbischofsheimer. Als die Unterhaltung der herrschaftlichen Wohnungen zu teuer wurde, verkauften die Herren von Gemmingen-Guttenberg ihre beiden Wohnhäuser, als letztes 1838 den „Langen Bau“ an die Brüder Lazarus, Emanuel und Wolf Reis.
An jüdischen Vereinen gab es einen Israelitischen Frauenverein (1869 genannt), einen Israelitischen Armenunterstützungsverein, einen Israelitischen Sterbe- und Beerdigungsverein (bzw. Israelitischer Leichenbestattungsverein) und einen Israelitischen Wohltätigkeitsverein. Als Begräbnisstätte diente zunächst der jüdische Friedhof in Heinsheim, seit 1743 der in Waibstadt.

Vom Betsaal zur Synagoge

Der Betsaal war zunächst in dem „Langen Bau“ untergebracht. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war dieses Gebäude baufällig und der Betsaal für die stark angewachsene Gemeinde zu klein geworden. In dieser Situation entstand der Plan, eine neue Synagoge neben dem „Langen Bau“ zu errichten. Dieser kam jedoch nicht zum Zuge. Nach längeren Überlegungen entschied die Ortsherrschaft 1789, vor allem aus finanziellen Erwägungen heraus, den „Langen Bau“ zugunsten eines Neubaus abzubrechen. Darin fand auch der Betsaal seinen Platz. Da dieser sich wiederum schon bald als nicht mehr ausreichend erwies, beantragte die jüdische Gemeinde 1823 eine Vergrößerung, etwa durch den Einbau einer Frauenempore. Da dies nicht zu realisieren war, wurde 1824 ein Grundstück für einen Neubau am Postweg (heute Deinhardstraße) erworben. Die Wollenberger Gemeinde erhielt erstmals ein eigenes Gotteshaus, das schon 1825 fertiggestellt war.

Lage der Synagoge (Flurstück Nr. 93) auf einem Plan zur Erstellung eines neuen Pumpbrunnens gegenüber dieser, gefertigt 1912. Ortsarchiv Wollenberg A 238.

Außer dem Betsaal befanden sich auch die Schule und die Lehrerwohnung im Synagogengebäude. Beim Novemberpogrom 1938 wurde dieses von einem SA-Trupp bis auf die Grundmauern zerstört. Das Grundstück musste kostenlos an die politische Gemeinde abgegeben und noch 250 Reichsmark für die Beseitigung des Schuttes bezahlt werden. Die letzten Reste der Synagoge wurden um 1965 abgebrochen. 1971 verkaufte die Gemeinde Wollenberg das Grundstück (Flurstück Nr. 93) an die angrenzenden Nachbarn; es wurde dabei in zwei Teile aufgeteilt. Der Standort des Synagogengebäudes war auf dem heutigen Grundstück Deinhardstraße 19.

Reste der 1938 zerstörten Synagoge Wollenbergs. Hauptstaatsarchiv Stuttgart EA 99/001 Bü. 304 Nr. 144.

Ein Leuchter für die Kirche

Nach einer Überlieferung stiftete ein jüdischer Mitbürger im Jahr 1848 einen Leuchter für die evangelische Kirche in Wollenberg, „um sich und sein Eigentum vor den damaligen Verfolgungen zu schützen.“ 1928 wurde im Rahmen einer Ortsbereisung durch das Bezirksamt Sinsheim auch die Kirche besichtigt. Dabei fiel der „geschmacklose ‚Kronleuchter‘ auf, der mitten in der Kirche hängt nur in geringer Höhe über dem Boden, und den Blick auf die Kanzel verdeckt.“ Und es wurde die Hoffnung geäußert, „daß seit dem Jahre 1848 oder auch 1898 der Geschmack der Gemeinde sich so geläutert hat, daß an der Weiterbelassung des Leuchters in der Kirche nicht mehr festgehalten wird.“ Der Leuchter wurde jedoch zunächst beibehalten und nur etwas höher gehängt. Später verschwand er aus der Kirche. Wo er verblieben ist, ist nicht bekannt.

Die Mikwe

1846 wurde hinter dem „Langen Bau“ in Richtung des Baches auf dem Grundstück Deinhardstraße 57 ein neues Mikwengebäude (Badhaus, Ritualbad) errichtet. Es verfügte über einen eigenen Brunnen und wurde bis in die 1930er-Jahre benutzt. Danach diente das Badhaus als Schuppen, bis es 1978 wegen Baufälligkeit abgebrochen werden musste. Der mit einer eisernen Abdeckung versehene Brunnen ist noch heute sichtbar.

Links: Die Mikwe auf dem Grundstück Deinhardstr. 57 wurde zuletzt als Schuppen genutzt und 1978 abgebrochen. Foto: Johannes Kösegi; Rhein-Neckar-Zeitung vom 7.12.1978. Rechts: Brunnen der ehemaligen Mikwe. Foto: Rudolf Petzold.

Der Niedergang der Gemeinde

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte die jüdische Gemeinde Wollenbergs einen Niedergang. Viele Jüdinnen und Juden wanderten aus. Lebten 1852 170 jüdische Bürger im Ort, waren es 1864 noch 144, 1875 noch 97 und 1900 gerade noch 32. Bis 1933 sank ihre Zahl auf 21 jüdische Einwohner, und nur noch ein jüdisches Kind aus Wollenberg besuchte den Religionsunterricht. Die letzten 1938 noch im Dorf verbliebenen Jüdinnen und Juden wurden am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert. Ein von einer Konfirmandengruppe 2007 geschaffener Gedenkstein mit Kerzensymbolen auf der Vorder- und Rückseite erinnert an die Opfer aus Wollenberg. Ein zweites Exemplar ist in das zentrale Mahnmal im Neckarzimmern integriert.

Gedenkstein für die 1940 nach Gurs deportierten jüdischen Bürger Wollenbergs am evangelischen Gemeindehaus. Foto: Petra Schön.

Nicht realisierter Plan für ein herrschaftliches Judenhaus der Freiherren von Gemmingen-Guttenberg, gefertigt 1770. Archiv der Freiherren von Gemmingen-Guttenberg XVIII 5 77.
Das Synagogengrundstück (Flst. 93) wurde 1971 geteilt und den beiden Grundstücken Deinhardstr. 17 (grau) und 19 (gelb) zugeschlagen. Die Synagoge von 1825 stand in der heutigen Deinhardstr. 19. Foto: Margrit Elser-Haft.
Grabstein des Abraham, Lehrer und Rabbiner aus Wollenberg, gest. 1746 (jüdischer Friedhof Heinsheim). Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II Nr. 2740 Bild 1.
Grabstein der Sarah Hahn, geborene Mannheimer, aus Wollenberg, gest. 1849 im Alter von 49 Jahren (jüdischer Friedhof Heinsheim). Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II Nr. 2351 Bild 1.
Grabstein des Emanuel Reis aus Wollenberg, gest. 1864 im Alter von 53 Jahren (jüdischer Friedhof Waibstadt). Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II Nr. 48283 Bild 1.
Grabstein der Babette Reis, Witwe aus Wollenberg, gest. 1867 (jüdischer Friedhof Waibstadt). Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II Nr. 48083 Bild 1.
Doppelgrab des Lazarus Löbmann, Handelsmann, und der Fanny, geborene Reis (jüdischer Friedhof Waibstadt). Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II Nr. 46856 Bild 1.

Quellen und Literatur

Ungedruckte Quellen:
Archiv der Freiherren von Gemmingen-Guttenberg, Nr. 1987; XVIII/5/77
Hauptstaatsarchiv Stuttgart EA 99/001 Bü. 304 Nr. 144
Stadtarchiv Bad Rappenau, Ortsarchiv Wollenberg A 170, A 238
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II; Landesdenkmalamt Baden-Württemberg: Dokumentation der jüdischen Grabsteine in Baden-Württemberg, Fotografien (Heinsheim)
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II; Landesdenkmalamt Baden-Württemberg: Dokumentation der jüdischen Grabsteine in Baden-Württemberg, Fotografien (Waibstadt)

Literatur:
ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn, 1986, S. 238–243.
Artikel zu Wollenberg auf der Internetseite der Alemannia Judaica; Link öffnen [Abruf am 07.06.2022].
HAHN Joachim / KRÜGER Jürgen, Synagogen in Baden-Württemberg. Teilband 2, Orte und Einrichtungen von Joachim Hahn, Stuttgart 2007, S. 37–38.
Der Landkreis Heilbronn. Hrsg. vom Landesarchiv Baden-Württemberg in Verbindung mit dem Landkreis Heilbronn. Ostfildern 2010. Bd. 1, S. 211.
PETZOLD Rudolf, Die jüdische Gemeinde in Wollenberg, in: Bad Rappenauer Heimatbote. Heimatgeschichtliche Veröffentlichung des Heimat- und Museumsvereins Bad Rappenau sowie der Stadt Bad Rappenau, 22. Jg. Dezember 2012, Nr. 23, S. 7–19.
PETZOLD Rudolf, Die Wollenberger Judenschaft. In: 1200 Jahre Wollenberg. Ein Heimatbuch. Hrsg. von der Stadt Bad Rappenau. Bad Rappenau, 1992, S. 241–268.
1200 Jahre Wollenberg. Ein Heimatbuch. Hrsg. von der Stadt Bad Rappenau. Bad Rappenau, 1992.