Schule, Wohnzimmer und Ausbildungsstätte
Das Fachwerkhaus in der Lehrener Straße 35 beherbergte bis 1860 die jüdische Schule und das Wohnzimmer des israelitischen Lehrers. Das der jüdischen Familie Thalheimer gehörende Gebäude erlangte eine besondere Bedeutung, als 1934 darin eine Ausbildungsstätte eingerichtet wurde. Die Einrichtung verkörpert zum einen die aus der Not geborene Umorientierung, da immer deutlicher wurde, dass junge Menschen ihre Zukunft nicht mehr in Deutschland sehen konnten und daher versuchten, frühzeitig das Land zu verlassen. Zum anderen verkörpert die Hachschara (hebräisch für Vorbereitung) den zionistischen Pioniergeist. Die jungen Erwachsenen bereiteten sich gezielt darauf vor, in Palästina einen jüdischen Staat aufzubauen. Hierfür wurden Einrichtungen benötigt, wie zum Beispiel landwirtschaftliche Lehrgüter, die auch „Umschichtungsheime“ genannt wurden.
Der „Kibbuz“
In der „Gemeinde-Zeitung für die israelitischen Gemeinden Württembergs“ vom 15. November 1935 wurde das Lehrgut in Lehrensteinsfeld auch als „Kibbuz“ (hebräisch für Sammlung) bezeichnet. Kibbuzim sind basisdemokratisch organisierte Kollektivsiedlungen in Palästina und im heutigen Israel. Für den Aufbau einer solchen Siedlung wurden junge jüdische Menschen in der Hachschara in Lehrensteinsfeld vorbereitet.
Auswanderungsvorbereitungen
Das landwirtschaftliche Lehrgut in Lehrensteinsfeld wurde vom Hechaluz (hebräisch für „Der Pionier“), dem Dachverband zionistischer Jugendorganisationen, geführt und war von Juni 1934 bis September 1938 belegt. Mit der zunehmenden Diskriminierung in Deutschland und dem dadurch bedingten Druck zu beruflicher Neuorientierung erwarben hier Jüdinnen und Juden handwerkliche, gärtnerische, land- und hauswirtschaftliche Fertigkeiten. Insgesamt lebten etwa 90 aus dem gesamten Reichsgebiet stammende Personen meist für einige Monate im Lehrensteinsfelder Lehrgut. Junge Frauen machten etwa ein Viertel aus. Viele waren bereits in ihren Zwanzigern, einige wie beispielsweise Alfred Boas bereits über dreißig. Die meisten dürften somit bereits zuvor in einem anderen Beruf tätig gewesen sein.
Zu den wenigen noch jüngeren Auswanderungswilligen gehörte der 1920 in Erbendorf geborene Horst Hauschild, der mit 18 Jahren auf das Lehrgut kam. Nach seiner Flucht nach Palästina nannte er sich Menachem Magen. Man weiß, dass Ende Februar 1936 in dem „jüdischen Heim“ zehn junge Leute lebten. Die sechs Männer waren bei örtlichen Landwirten, bei einem Gärtner im benachbarten Ellhofen und in einer Reparaturwerkstätte in Heilbronn beschäftigt, die vier Frauen „besorg[t]en […] das Hauswesen“. Derartige Beschäftigungen von Juden wurden geduldet, da man davon ausging, dass diese nach dem Abschluss ihrer „Umschichtung“ bzw. ihrer Ausbildung auswandern würden. Tatsächlich scheint es auch vielen gelungen zu sein, sich eine neue Existenz im Ausland, vornehmlich in Palästina, aufzubauen.
Die Auswanderungswilligen wurden auch von der jüdischen Nothilfe in Stuttgart unterstützt. Auch das Hachschara-Zentrum in der Frankfurter Straße in Heilbronn dürfte für sie eine Rolle gespielt haben, in dessen Auftrag der Heilbronner Rabbiner Dr. Harry Heimann 1937/38 Reisen nach Palästina und New York unternahm. Vermutlich nahmen auch die Lehrensteinsfelder Lehrlinge bzw. „Umschichtler“ an seinen Vorträgen im Heilbronner Adler-Keller teil, um sich über seine Reiseeindrücke zu informieren. Dort fanden auch Kurse in Hebräisch und Englisch für die Auswanderungswilligen statt.
Schavei Zion
Wahrscheinlich unterrichtete auch Wolf (später Seev) Berlinger während seines Aufenthalts im Lehrgut Hebräisch. Seine aus Lehrensteinsfeld stammende Ehefrau Margarethe (später Margalit) Berlinger (geborene Hirschheimer) schloss sich mit ihrem Mann der aus Rexingen stammenden Siedlergruppe in Schavei Zion an. Dort wurden die beiden die ersten Lehrer.
Der erste Bürgermeister der Stadt war Dr. Manfred Scheuer (1893–1983), der zuvor in Heilbronn eine gemeinsame Kanzlei mit Dr. Siegfried Gumbel hatte und Leiter des zionistischen Verbandes Heilbronns war. Laut Theodor Heuss, der Schavei Zion 1961 besuchte, machte der Ort einen „typischen schwäbischen Eindruck“.
Quellen und Literatur
Ungedruckte Quellen:
Förderverein Dorfkultur Lehrensteinsfeld
Gemeindearchiv Lehrensteinsfeld A 289, A 417
Stadtarchiv Heilbronn B21-63, D009-43
Vermessungsamt Heilbronn
Gedruckte Quellen:
Universitätsbibliothek Frankfurt am Main/Compact Memory; Link öffnen
Literatur:
ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn 1986, S. 138–145.
Artikel zu Lehrensteinsfeld auf der Interseite der Alemannia Judaica; Link öffnen [Abruf am 04.03.2022].
FIEDLER Herbert, Hachschara – Vorbereitung auf Palästina – Schicksalswege, Teetz 2004, S. 14–20.
Förderverein Dorfkultur Lehrensteinsfeld (Hg.), Liebenswertes Lehrensteinsfeld. Chronik über acht Jahrhunderte. Lehrensteinsfeld 2016, S. 147–148.
FRANKE Hans, Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn. Vom Mittelalter bis zu der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgungen (1050-1945) (= Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Heilbronn 11). Heilbronn 2011. [1963]; Link öffnen [Abruf am 10.05.2021], S. 75–79.
HAHN Joachim, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Stuttgart 1988, S. 235.
OLONETZKY Nadine, Stolpersteine zur Erinnerung an Moritz Olonetzky, Paula Apfelbaum-Olonetzky, Efrem Olonetzky/Ilani, Avraham Olonetzky/Ilani, Beny Olonetzky. 2021.
Liebenswertes Lehrensteinsfeld. Chronik über acht Jahrhunderte. Zusammengestellt vom Förderverein Dorfkultur Lehrensteinsfeld. Lehrensteinsfeld 2014, S. 147-148.
PETZOLD Günter, Shavei Zion – Blüte in Israel aus schwäbischer Wurzel. Ein Bericht in Wort und Bild. Gerlingen 1978, S. 36.
SAUER Paul, Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933–1945 (=Veröffentlichungen Staatl. Archivverwaltung 20). Stuttgart 1969, S. 73.