Die jüdische Gemeinde Wimpfen
Die früheste belegbare Geschichte der Wimpfener Juden reicht ins 13. Jahrhundert zurück. Am Anfang steht der wohlhabende Kaufmann Alexander ben Salomo, genannt Süßkind Wimpfen, der 1307 sein Vermögen hingab, um die Gebeine seines 1293 in Haft verstorbenen Lehrers, des berühmten Rabbi Meir von Rothenburg (genannt MaHaRaM), auszulösen. Hierfür erbat er sich nichts weiter, als an dessen Seite bestattet zu werden. Beider Gräber sind heute noch auf dem jüdischen Friedhof „Heiliger Sand” in Worms erhalten. Sie sind zu einer Gedenkstätte für viele Juden aus aller Welt geworden.
„Kleine Dachauer Passion”
Der Abriss dieser bedeutenden Tradition begann mit der Zeit des Nationalsozialismus. Zwar gelang es vielen Wimpfener Jüdinnen und Juden, der nationalsozialistischen Katastrophe durch Flucht zu entkommen, dennoch wurden elf jüdische Mitbürger in Konzentrationslagern ermordet. Bereits nach der Pogromnacht 1938 wurde der 84-jährige Antiquitätenhändler Adolf (Simon) Baer nach Dachau gebracht, wo er bald darauf den Folgen der Folter erlag – ihm widmete der jüdische Dichter Leopold Marx die ergreifende „Kleine Dachauer Passion".
Kleine Dachauer Passion
1.
Wir sprachen für manchen das Sterbegebet,
doch nur einer trug nach ihm Begehr.
Von Wimpfen am Neckar – vergesset ihn nicht,
wenn ihr zeugen sollt vor dem Letzten Gericht
– den alten Simon Bär!
Sie holten ihn, wie sie uns alle geholt,
vom Zünden gestärkt den Elan,
vielleicht aus dem Schlaf, vielleicht vom Gebet,
vielleicht auch zerscherbten sie noch sein Gerät,
wenn sie streng nach der Order getan.
Vielleicht sagte einer: laßt ihn doch da,
für den ist zu schade die Fracht!
Der verreckt auch ohn' unsern Beistand bald,
seine dreiundachtzig ist er schon alt …
Sie haben ihn doch gebracht.
Wie alle ließ man ihn hungern und stehn,
zuletzt haben zwei ihn getragen;
dann kam er zu einem, der schor ihn kahl,
ein andrer spritzt' ihn mit kaltem Strahl -
vielleicht hat auch einer geschlagen.
Dann kam er in unsre Baracke. Es war
im Stroh und am Ofen ganz warm -
doch: am Morgen Appell, es war noch nicht hell,
und mittags Appell und abends Appell,
und ein Wetter, daß Gott erbarm.
Appell, das ist heilig... Sie mußten hinaus;
ob siebzig, ob achtzig, ob schwach,
ob krank, ob gelähmt – was verschlug's schon – man nahm
an Schulter und Bein, wer allein nicht mitkam,
und schleppte ihn hintennach.
Appell, das ist heilig und dauert Zeit,
eine Stunde, drei Stunden, auch mehr...
"Ach liegen! ach schlafen! man ist ja so alt.
Vielleicht sieht's unser Gott und erbarmt sich bald.
Er weiß doch: hier pass' ich nicht her."
Appell, das ist heilig... War falsch gezählt,
heißt's stehn, bis der Fehler gefunden.
Wird es einem zuviel, so hat's keine Not:
der Tod beim Appell ist der Dachauer Tod.
"Schön ist's zu sterben im Morgenrot",
aller weiteren Sorgen entbunden.
Grauer Regen leiert den Morgen ein
– Dezember... "Aufstehn!" das geht schnell.
Nur einer bleibt liegen. Er röchelt im Stroh...
"Ein Rabbiner!" "Schemah..."*), nun die Augen zu! – So,
einer weniger... "Marsch, zum Appell!"...
Wir sprachen für manchen das Totengebet,
doch nur einer trug nach ihm Begehr.
Von Wimpfen am Neckar – vergesset ihn nicht,
wenn ihr zeugen sollt vor dem Letzten Gericht –
den alten Simon Bär!
*) erstes Wort des Totengebets
2.
Der Dachauer Tod ist der Tod beim Appell...
doch – es stirbt sich auch gut im Revier.
Vom Revier zum Brenn-Ofen hin und her
herrscht ein reger verläßlicher Pendelverkehr:
zweirädriger Karren – zurück fährt er leer,
hin immer besetzt, doch benützt ihn nie mehr
als e i n schweigsamer Passagier.
Wieviel Schicksal decken die Flammen zu!
Ich will e i n e n Posten nur buchen: –
ein ungwöhnlicher Todesbefund –
er starb - am Irrsinn, der arme Hund.
Eh er herkam, war er noch ganz gesund.
Wir wollen unvoreingenommen und
sachlich den Fall untersuchen...
Frühmorgens. Es läutet Sturm vor dem Haus.
Das "V o l k" kommt mit Beilen und Äxten.
S p o n t a n, wie am Schnürchen geriet es in Wut:
der Hausrat zahlt ihr den ersten Tribut,
dann – sechs gegen einen, das hebt den Mut,
und der Frau und den Jungen tut Zusehn gut...
Ein Einfall erleuchtet den Sechsten:
"Wie alt, Bumeh?" fragt er das zitternde Kind.
"Zehn jahre - na schön, das ist viel.
Da bist Du schon lange genug auf der Welt!"
Er schwingt seine Axt jeder Zoll ein Held.
"Nein! Nein doch!" der Aufschrei der Mutter gellt.
Der Vater starrt stier... Da – das Eisen – es fällt...!?
Was denkt ihr? – Ein Scherz nur, ein Spiel!
Wer weiß, vielleicht war es ein Vor-Spiel bloß...
Stumm grinst die Gefängniswand.
Stumm brütend saß er drei Tage da...
Keine Seele erfuhr, was dort in ihm geschah.
Dann kam er nach Dachau, und hier – nun ja,
hier lag er herum bis ein Blinder es sah:
den hat´s! das ist kein Simulant.
Er aß nicht, er trank nicht. Er wollte davon,
und hielt man ihn, schlug er Krawall.
Er kam ins Revier, und kaum war er dort –
der Raum ist beschränkt - nahm der Karren ihn fort...
Die Asche, ein amtlicher Totenrapport
kam der Wittwe ins Haus... wer spricht da von Mord!
Es war nichts als ein Dachauer Fall.
Quelle: Kleine Dachauer Passion I (reinhard-doehl.de) (Zugriff: 07.03.2022)]
Judengasse mit Judenhaus
Zwischen diesen Eckpunkten liegt die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wimpfen. Bereits 1327 wird eine „Judengasse” mit „Judenhaus” urkundlich erwähnt, bevor 1332 Jüdinnen und Juden offiziell die Niederlassung durch ein kaiserliches Privileg gestattet und ihre rechtliche Stellung durch die Aufnahme des „Judeneids” in die Stadtordnung von 1404 geregelt wurde. Die Judengasse befand sich „hinter der Krone”, vermutlich im Bereich des heutigen Schwanengäßchens und der oberen Langgasse.
Das HaLevi-Haus
Von der Bedeutung der jüdischen Gemeinde zeugt noch heute das stattliche Wohnhaus des Alexander (Sander), Sohn des Ascher HaLevi, genannt Lemle, im Schwibbogen 5. Wie die gut lesbare Inschrift berichtet, errichtete er es im Jahre 1580:
סנדר בר אשר הלוי
זל שנת שם לפק
Sander, bar Ascher HaLevi
z.l. (seligen Angedenkens) im Jahre 340 der kleinen Zählung (5340=1580)
Judenordnungen und Ausgrenzung
Die Judenordnung von 1598, die die Pflichten der Wimpfener Jüdinnen und Juden dokumentiert, macht die erschwerten Lebensbedingungen deutlich. Unter anderem mussten sie diese Verordnung an ihren Haustüren aushängen, die Waren, mit denen sie handeln durften, wurden beschränkt, ortsfremde Jüdinnen und Juden durften nur maximal eine Nacht in der Stadt beherbergt werden und mussten sich beim Betreten der Stadt gegen eine Gebühr ein „Zeichen” beim Torwärter abholen. 1626 wurde auch jüdischen Wimpfenern das Tragen eines gelben Ringes als Abzeichen vom Rat der Stadt vorgeschrieben. Während des Dreißigjährigen Kriegs wurden ihre Steuern erhöht, und sie mussten diese unter Androhung von Turmhaft bereits im Voraus bezahlen. 1672 verwies der Rat die Wimpfener Jüdinnen und Juden der Stadt. Diese Ausweisung hatte zwar nur zwei Jahre Bestand, aber die Gemeinde konnte nicht mehr an ihre vormalige Bedeutung anknüpfen.
Da durch die Wimpfener Judenordnung von 1630 die Einrichtung einer Synagoge vom Rat untersagt war, wurde die Synagoge in Heinsheim besucht. Spätestens seit dem Übergang der Stadt an das Großherzogtum Hessen zu Beginn des 19. Jahrhunderts diente das HaLevi-Haus im Schwibbogen als Betsaal für die jüdische Gemeinde und einigen wenigen zugelassenen Gläubigen aus der näheren Umgebung. Bis 1831 befand sich im Keller auch eine Mikwe (Ritualbad), deren separater Eingang noch heute sichtbar ist. Hier war auch die Religionsschule untergebracht. Als das Gebäude 1892 an Nichtjuden verkauft wurde, duldeten die neuen Besitzer „fernerhin und für alle Zeiten” die weitere Nutzung als Betsaal.
Israelitisches Knaben-Pensionat
Ab 1887 bestand ein „Israelitisches Knaben-Pensionat” für jüdische Schüler des Großherzoglichen Realgymnasiums (heutiges Hohenstaufen-Gymnasium), das vom Religionslehrer Jakob Rosenthal geleitet wurde. Hier konnten Schüler nach ihrer Religion leben und wurden, wenn nötig, von schriftlichen Arbeiten am Schabbat-Ruhetag freigestellt.
Der jüdische Friedhof
Erst 1896 erlaubte man der jüdischen Gemeinde einen eigenen Friedhof in einer ehemaligen Lehmgrube am Ortsende in Richtung Heinsheim; vergeblich hatte man versucht, den neuen städtischen Friedhof mitbenutzen zu dürfen. Zuvor wurden die Toten der jüdischen Gemeinde in Neudenau und in Heinsheim bestattet.
Gedenken
Heute erinnert eine eigene Abteilung im Reichsstädtischen Museum an die Bedeutung der jüdischen Gemeinde. Dort befindet sich mittlerweile auch das Original der sogenannten „Judensau”. Diese frühgotische Sandsteinskulptur in Form eines Wasserspeiers mit einer judenfeindlichen Darstellung stammt von der Fassade der Stiftskirche St. Peter im Tal. In situ, an der südlichen Chorseite, befindet sich eine Kopie der Schmähskulptur. Seit 2013 erläutert eine Infotafel unterhalb der Skulptur den Kontext; sie wurde vom Bistum Mainz angebracht.
2009 wurde am Haus Schwibbogen 5 eine bronzene Gedenktafel für die jüdischen Familien angebracht und 2010 drei Stolpersteine für Opfer der Schoa vor den Häusern Marktrain 6 und Hauptstraße 35 verlegt.
Adolf-Baer-Platz
Neuerdings werden Straßen zur Erinnerung an herausragende jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger benannt, so etwa der Adolf-Baer-Platz im Neubaugebiet „Wolfsberg”, dem der jüdische Dichter Leopold Marx die ergreifende „Kleine Dachauer Passion” widmete.
Schutz für die Marienkirche?
Aufmerksamkeit erweckt auch eine hebräische Inschrift an der Stadtkirche, die 1234 erstmals als Marienkirche genannt ist. Sie ist auf einem Quader der Nordostecke des nördlichen der beiden Türme zu finden und gibt den hebräischen Gottesnamen wieder. Die Inschrift könnte in apotropäischer Absicht angebracht worden sein: Sie sollte also Unheil abwenden und das Kirchengebäude vor dämonischen Mächten schützen.
Quellen und Literatur
Ungedruckte Quellen:
Hessisches Staatsarchiv Darmstadt C1 A Nr. 35
Gedruckte Quellen:
Universitätsbibliothek Frankfurt am Main/Compact Memory; Link öffnen
Literatur:
ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn 1986, S. 31–45.
Artikel zur Synagoge Bad Wimpfen auf der Internetseite der Alemannia Judaica; Link öffnen [Abruf am 04.04.2022].
BÖCHER Otto, Eine hebräische Bauinschrift in Wimpfen. In: Forschungen und Berichte der Archäologie des Mittelalters in Baden-Württemberg 8. 1983, S. 473–476.
Dachauer Passion I. Internetseite https://www.reinhard-doehl.de/poetscorner/marx8.htm.
HAHN Joachim, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg. Stuttgart 1988, S. 222‒223.
HAHN Joachim / KRÜGER Jürgen, Synagogen in Baden-Württemberg. Teilband 2, Orte und Einrichtungen von Joachim Hahn. Hrsg. von Rüdiger Schmidt, Badische Landesbibliothek, Karlsruhe, und Meier Schwarz, Synagogue Memorial, Jerusalem. Stuttgart 2007, S. 40‒42.
KULESSA Birgit / HABERHAUER Günther, Bad Wimpfen (Archäologischer Stadtkataster Baden-Württemberg 40.1). Stuttgart 2017, S. 72 ff.,129 f., 275.
Landesarchiv Baden-Württemberg (Hg.), Der Landkreis Heilbronn. Strukturen und Entwicklungen. Bd. 1. Ostfildern 2010.
WETZKA Bernd, An Wimpfener Straßenrändern 13. Folge: Stolpersteine in Bad Wimpfen. In: Roter Turm, Nr. 40, Oktober 2010.