Jüdischer Kulturweg

Das Gasthaus Henle Lehrensteinsfeld

Gemeinde Lehrensteinsfeld

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Raphael Schmitz

Das Gasthaus

In der heutigen Lehrener Str. 40, gegenüber der Synagoge, stand ein bedeutendes Gasthaus. Es wurde von Abraham und Hannchen Henle geführt, seit 1909 wurde hier von deren Sohn, dem Viehhändler, Land- und Gastwirt Leopold Henle (1877‒1940) zusammen mit seiner ersten Frau Laura (1883-1918) in der Schankwirtschaft in zwei Räumen Wein ausgeschenkt. Das Schankrecht bezog sich nicht nur auf die beiden genannten Räume, sondern auch auf den „anschließenden Hofraum“. Das Gasthaus war die einzige Wirtschaft in Lehrensteinsfeld, die in den Jahren des Ersten Weltkriegs geöffnet blieb, da Leopolds Ehefrau Laura den Betrieb alleine weiterführte. In der jüdischen Gemeinde war Leopold Henle ein angesehener Mann. Das jüdische Frauenbad von Lehrensteinsfeld befand sich auf einem Grundstück der Henles.
1929 erhielt das Gasthaus zusätzlich zum Wein- und Branntweinausschank noch die Konzession zum Bierausschank. Am 1. April 1933 wurde das Gewerbe eingestellt, da es schwere finanzielle Verluste aufgrund des Aufrufs der Nationalsozialisten zum Boykott jüdischer Geschäfte gegeben hatte. So verweigerten Schuldner Henle die Zahlung offener Rechnungen. Am 1. Juni wurde das Gasthaus dennoch wieder geöffnet. Im Oktober 1937 meldete Henle seinen Viehhandel ab. Aufgrund finanzieller Schwierigkeiten war er gezwungen, sein Haus 1937 weit unter Wert an den Maurer und Weingärtner Adolf Marian zu verkaufen. Das Gasthaus betrieb Henle bis zur Übergabe am 10. Mai 1938 weiter.

Ansicht der Restauration Abraham Henle. Kreisarchiv Heilbronn Sammlung Wolfgang Domesle.

Familie Henle

Leopold und Laura Henle hatten einen Sohn Albert (1909‒1979). Nach dem Tod von Laura im Jahr 1918 heiratete Leopold Henle 1919 seine Schwägerin Jenny Weil. 1920 wurde die gemeinsame Tochter Flore geboren. Die Familie Henle gehörte zu den 1933 noch elf in Lehrensteinsfeld verbliebenen Jüdinnen und Juden. Albert wanderte 1936 nach Eretz Israel (Britisches Mandatsgebiet Palästina) aus.
In der Pogromnacht im November 1938 kam es in Lehrensteinsfeld zu schlimmen Ausschreitungen: Jüdische Einwohnerinnen und Einwohner wurden misshandelt, Wohnungen und Gebäude demoliert. Auch Henles Haus wurde geplündert und verwüstet. Im gleichen Jahr wurde Leopold Henle ins „Braune Haus“ nach Heilbronn geladen und dort von den Nazis schwer misshandelt. Am 29. November 1938 verzogen Leopold und Jenny nach Ludwigsburg. Hier wurde Leopold 1940 auf der Straße zusammengeschlagen und starb am 18. August 1940. Als ehrenamtlicher Vorbeter der israelitischen Gemeinde hatte er nach dem Verkauf der Synagoge beim Abschiedsgottesdienst noch am 26. Juni 1938 in der Lehrensteinsfelder Synagoge die Begrüßungs- und Dankesworte gesprochen.
Jenny fand eine Anstellung im Israelitischen Landesasyl, einem jüdischen Altenheim, in Heilbronn-Sontheim. Am 26. November 1941 wurde sie von Ludwigsburg zunächst nach Stuttgart gebracht und vom dortigen Nordbahnhof am 1. Dezember nach Riga deportiert. Am 4. Dezember erreichte der Zug sein Ziel, das Konzentrationslager Jungfernhof in Riga. Vermutlich ist Jenny Henle direkt nach der Ankunft wie viele andere ermordet worden. Laut Beschluss vom 17. Dezember 1951 wurde ihr Todesdatum für die Wiedergutmachungsakten auf den 31. Dezember 1945 gelegt.
Zur Verlegung des Stolpersteins in Ludwigsburg in der Myliusstraße 6/1 im Jahr 2013, der an Jenny Henle erinnert, kamen ihre Enkelin Yael Rotshildramot, ihre Urenkel Revival Harush und Amilhood Rotshildramot sowie Ururenkel Ori Rotshildramot nach Lehrensteinsfeld.
Flore verließ ebenfalls Lehrensteinsfeld und zog nach Stuttgart, wo sie Arbeit fand. Zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina schloss sie sich einem Hachschara-Hof in Urfeld am Rhein an. Im August 1939 gelang es ihr, nach England zu entkommen. Dort erhielt sie eine Einreisegenehmigung für Eretz Israel, wo sie im März 1940 auf dem Umweg über Ägypten eintraf.

Leopold und Jenny Henle vor ihrem Haus in Lehrensteinsfeld, 1938. Yad Vashem Objektsammlung, Geschenk von Flore Rothschild (geb. Henle), Ramat Zvi, Israel.

Der erste Eintrag in Flore Henles Poesiealbum vom 14. März 1930 stammt von ihrem Vater Leopold Henle. Museum Synagoge Affaltrach Nr. 2019074.
Ansichtskarte aus Lehrensteinsfeld vom 13. Juni 1906 mit Restauration Abraham Henle. Auf der Gesamtansicht ist am Kaltenbrunnenbach (Flurname „Judenbad“) die heute nicht mehr erhaltene Mikwe abgebildet. Kreisarchiv Heilbronn Sammlung Wolfgang Domesle.
Rückseite der Ansichtskarte vom 13. Juni 1906, in der über einen Frühschoppen-Bummel ins Restaurant der Hannchen Henle in Lehren berichtet wird. Sammlung Wolfgang Domesle.
Grabstein des Abraham Fais Henle, geb. am 6. Juli 1843, gest. am 17. Juli 1892 (jüdischer Friedhof Affaltrach). Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II Nr. 65635 Bild 1.
Rückseite des Grabsteins des Abraham Fais Henle (jüdischer Friedhof Affaltrach). Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II Nr. 65637 Bild 1.
Grabstein der Hannchen Henle geb. Rosenfeld (jüdischer Friedhof Affaltrach). Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II Nr. 66050 Bild 1.
Grabstein des Leopold Henle (Neuer jüdischer Friedhof Ludwigsburg). Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II Nr. 63746 Bild 1.

Quellen und Literatur

Ungedruckte Quellen:
Gemeindearchiv Lehrensteinsfeld A 179, A 268, A 722, A 771
Kreisarchiv Heilbronn Sammlung Wolfgang Domesle
Museum Synagoge Affaltrach Nr. 2019074
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 228 b II
Yad Vashem Objektsammlung

Gedruckte Quellen:
Heilbronner Stimme vom 29. April 2013

Literatur:
ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn 1986, S. 138–145.
Artikel über die Neujahrskarte der 12-jährigen Flore Henle an ihre Eltern Leopold und Jenny auf der Internetseite von Yad Vashem: Link öffnen [Abruf am 21.04.2022].
Artikel über Jenny Henle auf der Internetseite der Stolperstein-Initiative Ludwigsburg: Link öffnen [Abruf am 16.03.2023].
Artikel zur jüdischen Gemeinde Lehrensteinsfeld auf der Internetseite der Alemannia Judaica: Link öffnen [Abruf am 21.04.2022].
Datensatz zu Albert Henle auf der Genealogie-Internetseite Geni: Link öffnen [Abruf am 11.05.2022].
HAHN Joachim, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg. Stuttgart 1988, S. 234‒235.
Liebenswertes Lehrensteinsfeld. Chronik über acht Jahrhunderte. Zusammengestellt vom Förderverein Dorfkultur Lehrensteinsfeld. Lehrensteinsfeld 2014, S. 139, S. 146.