Die Entengasse: Jüdisches Wohngebiet und Betsaal
Im kleinen Dorf Schluchtern, welches bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zur Kurpfalz gehörte, waren Jüdinnen und Juden bereits im 17. Jahrhundert ansässig. Die höchste Zahl jüdischer Einwohnerinnen und Einwohner wurde um 1885 mit 99 Personen erreicht. Sie lebten in bescheidenen Verhältnissen, ihr Wohngebiet lag ursprünglich vor allem in der Entengasse und Umgebung. Um 1800 war ein Betsaal in einem Nebengebäude zum Wohnhaus der Familie des Alexander Gunzenhausen eingerichtet worden (heutiges Grundstück Entengasse 4). Gunzenhausen, der 1822 verstarb, hielt in seinem Testament verschiedene Bestimmungen für das Haus und den Betsaal fest. Unter anderem durfte, so lange eines seiner Kinder lebte, sein Wohnhaus mit der Schule bzw. Betsaal „nicht in fremde Hände gebracht werden“. Die Nachkommen durften jedoch selber darüber entscheiden, wer es bekommen sollte.
Nach jahrelangen Auseinandersetzungen über die Frage, wer im Betsaal das Sagen hatte, ging das Gebäude im Jahr 1855 in das Eigentum der Israelitischen Gemeinde Schluchtern über, die es offensichtlich von den Nachkommen des Alexander Gunzenhausen übernommen hatte. Im Ort sind auch mehrere Tauchbäder nachgewiesen, die zur rituellen Reinigung genutzt wurden (Mikwaot). Diese mussten aufgrund ihres schlechten Zustandes auf Anweisung des badischen Bezirksamtes Eppingen im Jahr 1850 geschlossen werden. Die Toten der jüdischen Gemeinde wurden zunächst in Waibstadt und Heinsheim, seit 1882 auf einem eigenen Friedhof in Schluchtern beigesetzt.
Aus Schluchtern stammt der bekannte badische Bezirksrabbiner Isaak-Eisik Friedberg, der von 1855 bis 1870 Bezirksrabbiner in Bruchsal war und dort 1870 verstarb. Er war der Sohn des Bezirksrabbiners in Schluchtern, Löb Friedberg, und der Zirle Delom (1772–1833).
Die neue Synagoge
Ein neuer Betsaal bzw. eine neue Synagoge wurde 1914 auf einem 128 m² großen Grundstück (heute Brunnengasse 15) erbaut. Den Plan für den Neubau, der vom Bezirksamt am 25. September 1914 genehmigt wurde, fertigte Architekt Johann Auchter von Eppingen. Auf dem Grundstück befand sich auch eine bereits 1911 erbaute Remise, die für die Unterstellung des Leichenwagens genutzt wurde.
Die Zeit des Nationalsozialismus
In der Pogromnacht 1938 wurde die Synagoge in der Brunnengasse von SA-Männern demoliert. Das Synagogengebäude wurde 1939 an den benachbarten Landwirt Hermann Besserer verkauft. Zunächst wurde es als Scheune verwendet und im Jahr 1941 mit dem Nachbargrundstück vereinigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es der jüdischen Vermögensverwaltung JRSO übertragen und kam schließlich wieder in den Besitz des Landwirts. 1966 wurde ein neues Wohnhaus auf dem Grundstück erstellt und die vorhandenen Gebäude abgebrochen. Die frühere Synagoge stand an der Stelle der heutigen Garage und des linken Teils des Gebäudes Brunnengasse 15.
Wirtschaftliche Betätigung
Die jüdischen Familien lebten überwiegend vom Viehhandel. Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft war die Gastwirtschaft „Traube“ im Besitz des Josef Wolf Kirchhausen, und die Familie Schwarzwälder führte eine kleine Seifenfabrik. Die Zigarrenfabrik Jos. Kirchhausen W. Sohn in der Entengasse 4 und 4a war 1919 gegründet worden und galt als eines der größten Unternehmen in Schluchtern. Die Fabrik hatte stets über 30 Beschäftigte, die höchste Zahl lag bei 45. Es wurden wöchentlich etwa 25.000 Zigarren hergestellt, die in Köln, Düsseldorf Frankfurt, Luxemburg, Dänemark, Schweden und Ostpreußen vertrieben wurden.
Das Kriegerdenkmal
Im Ersten Weltkrieg hatte die jüdische Gemeinde viele gefallene Soldaten zu beklagen. Das Kriegerdenkmal führt unter anderem auf: Alexander Hanauer (geb. am 23.2.1883, gest. am 23.11.1918), Isidor Kirchhausen (geb. am 10.12.1892, gest. am 22.10.1914), Daniel Bauernfreund (geb. am 1.2.1886, gest. am 1.8.1918), Julius Kirchhausen (geb. am 19.4.1890, gest. am 2.8.1915), Karl Kirchhausen (geb. am 1.2.1886, gest. am 8.11.1914) sowie Gustav Schwarzwälder (geb. am 13.11.1874, gest. am 26.6.1917).
Deportation und Gedenken
1933 lebten in Schluchtern noch 29 Jüdinnen und Juden. Vor allem die jüngeren entzogen sich durch Auswanderung den Judenverfolgungen und -ermordungen. Die zurückgebliebenen 12 Jüdinnen und Juden wurden am 22. Oktober 1940 mit anderen badischen Juden in das Internierungslager Gurs in Südfrankreich deportiert, wo eine Frau starb. Von dort kamen die anderen im August 1942 in Viehwaggons in das KZ Auschwitz wo sich ihre Spuren verlieren. Abraham Kirchhausen, Kriegsversehrter und Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse, wurde von Darmstadt aus nach Theresienstadt deportiert. Er überlebte und kehrte 1945 nach Schluchtern zurück. Von den Ausgewanderten kam nach 1945 nur David Kirchhausen wieder nach Schluchtern zurück.
Im Rahmen des Ökumenischen Jugendprojekts „Mahnmal“ zur Erinnerung an die deportierten Juden aus Baden in das Lager Gurs im Jahr 1940 wurde in Schluchtern ein Gedenkstein errichtet; ein zweites Exemplar ist Bestandteil des zentralen Mahnmals in Neckarzimmern.
Quellen und Literatur
Ungedruckte Quellen:
Generallandesarchiv Karlsruhe 377 Zugang 1987-1 152.
Literatur:
ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn 1986, S. 200–205.
Artikel zur jüdischen Gemeinde und Synagoge Schluchtern auf der Internetseite der Alemannia Judaica; https://www.alemannia-judaica.de/schluchtern_synagoge.htm
GEISS Norbert, Geschichte der Juden in Schluchtern: Ein Gedenkbuch für die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Hg.: Evangelische Kirchengemeinde Schluchtern, Schluchtern 2010.
HAHN Joachim / KRÜGER Jürgen, Synagogen in Baden-Württemberg. Teilband 2, Orte und Einrichtungen von Joachim Hahn. Hrsg. von Rüdiger Schmidt, Badische Landesbibliothek, Karlsruhe, und Meier Schwarz, Synagogue Memorial, Jerusalem. Stuttgart 2007, S. 293–295.
Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781–1871. Bearbeitet von Carsten Wilke (Biographisches Handbuch der Rabbiner 1). München 2004, S. 340.