Jüdischer Kulturweg

Die jüdische Gemeinde Talheim

Gemeinde Talheim

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Dieter Gaa

Die jüdische Gemeinde Talheim

Bereits im 15. Jahrhundert lebten einzelne Jüdinnen und Juden in Talheim; sie waren aus der Reichsstadt Heilbronn ausgewiesen worden. Der eigentliche Beginn der jüdischen Gemeinde fällt aber in das Jahr 1778, als Württemberg im baufälligen westlichen Teil der Oberen Burg mehrere jüdische Familien aus Horkheim unterbrachte.
1806 war das herrschaftlich zersplitterte Talheim, eine Ganerbschaft, württembergisch geworden. Danach wurde den jüdischen Gemeindemitgliedern Grunderwerb gestattet. So kauften sie 1821 Württemberg den von ihnen bewohnten Burgteil ab und ließen sich auch im Dorf selbst nieder. Der Betsaal bzw. die Synagoge waren aber stets im Bereich der Oberen Burg: ursprünglich im zweiten Obergeschoss der Burg selbst, dann im Burghof in einem als Bet-, Back- und Waschhaus genutzten Gebäude von 1793. Darin befanden sich auch die Schule und die Lehrerwohnung. 1857 wurde in der heutigen Lange Gasse 5 ein eigenes israelitisches Schulhaus errichtet. Seit 1914 fand dort nur noch Religionsunterricht statt, da die Kinder die evangelische Schule besuchten. 

Übersichtsplan mit Wohn- und Geschäftshäusern, die in jüdischem Besitz waren.

Erst ab 1849 bildete das zunächst zu Sontheim gehörige Talheim eine eigenständige jüdische Gemeinde, die seit 1867 dem Rabbinat Heilbronn zugeteilt war. Diese erreichte 1860 mit 122 Personen ihre Höchstzahl. Die jüdischen Familien lebten im 19. Jahrhundert vorwiegend von Vieh- und Ellenwarenhandel. 1933 gehörten noch zahlreiche Betriebe jüdischen Familien, darunter mehrere Pferde- und Viehhandlungen, Manufakturwaren- und Rauchwarengeschäfte, eine Weinhandlung und eine Metzgerei.
Von den 1933 in Talheim lebenden Jüdinnen und Juden konnten bis 1939 insgesamt 40 in die USA, nach Südafrika, England, Frankreich und Belgien fliehen und so ihr Leben retten. 35 zumeist ältere Leute mussten infolge der nationalsozialistischen Verfolgungen 1941/42 in drei Transporten den Todesweg nach dem Osten antreten − die meisten nach Riga −, wo sie ermordet wurden.

Die im Jahr 1952 abgebrochene Talheimer Synagoge im Burghof. Aus: Jüdische Gotteshäuser und Friedhöfe in Württemberg, Stuttgart 1932, S. 128.

Weiterführender Text

Die jüdische Schule

Mit Salomon Aron aus Königsbach (später Salomon Königsbacher) besaß die jüdische Gemeinde seit etwa 1792 – wohl im Zusammenhang mit der Errichtung eines Betsaals – einen Vorsänger und Lehrer. Im Nebenamt hatte der Lehrer sowohl bei den jüdischen als auch bei den christlichen Metzgern die rituelle Schlachtung zu überwachen. Dafür musste er extra von den Metzgern bezahlt werden. Diese Bezahlung war stets ein willkommenes Zubrot.
Ein eigenes israelitisches Schulhaus richtete die Gemeinde 1857 in dem Gebäude der heutigen Lange Gasse 5 ein. Die dafür anfallenden Kosten von 1.900 Gulden reduzierten sich durch einen staatlichen Zuschuss von 500 Gulden. Seit 1914 besuchten die Kinder die evangelische Schule, abgesehen vom Religionsunterricht, der weiterhin im jüdischen Schulhaus stattfand. Der letzte jüdische Lehrer Isaak Straus wanderte 1939 nach Palästina aus, seine beiden Söhne hatten Deutschland bereits 1936 bzw. 1937 verlassen.

Talheim, Lange Gasse 5. Ehemaliges jüdisches Schulhaus mit Lehrerwohnung. Foto: Dieter Gaa.

Jüdische Schuljugend

Von der jüdischen Schuljugend existiert eine Fotografie, aufgenommen um 1932/33 im Haigernwald. Auf ihr sind fünf Jungen und vier Mädchen im schulpflichtigen Alter zu sehen, alle aus den Geburtsjahrgängen 1921–1926. Von diesen neun Kindern konnten nur Fritz Löwenthal (stehend, dritter von links) und Lotte Levi (sitzend, zweite von links) durch Auswanderung ihr Leben retten. Nicht auf dem Bild sind Irene (geb. 1923) und Luzy Manasse (geb. 1926), sie konnten sich durch glückliche Umstände der Shoah entziehen. Zusammen mit ihren Eltern Julius (gest. 1934) und Henriette Manasse, geborene Braun (gest. 1935), hatten sie in der Friedhofstraße 2 gelebt.

Jüdische Schuljugend, Geburtsjahrgänge 1921–1926. Die Aufnahme entstand um 1932/33. Foto: Sammlung Dieter Gaa.

Ludwig und Rosa Levi und ihre Tochter Lotte

Ludwig Levi stammte aus Affaltrach. Nach der Verehelichung 1919 mit der aus Talheim stammenden Rosa Hirschfeld ließ er sich in Talheim nieder. Als Stoffhändler stand er gesellschaftlich in der jüdischen Gemeinde weit über den Viehhändlern. Neben ihm gab es nur noch einen weiteren Stoffhändler, nämlich Herbert Wertheimer in der Hauptstraße 10. Ludwig und Rosas Tochter Lotte (geb. 1921) besuchte bis 1936 die höhere Töchterschule in Heilbronn. Da sie anschließend keine Lehrstelle fand, beschaffte sie sich bereits 1937/38 eine Einwanderungszusage beim Amerikanischen Konsulat. Hilfreich war dabei, dass ihre Cousine Heddy Miller in New York für sie bürgte und ihr ein sogenanntes Affidavit – eine Bürgschaftserklärung – zukommen ließ. Mit 18 Jahren konnte Lotte 1939 nach Amerika auswandern.
Lotte kann sich nicht erinnern, dass sie oder ihre Mutter je die Mikwe in der Synagoge besucht hätten. Sie berichtete auch, dass ihr Vater Ludwig – wie auch seine fünf Brüder – im Ersten Weltkrieg gedient hatte und 1918 hochdekoriert zurückkehrte. Dadurch fühlte er sich sicher vor den Zugriffen und Gewalttätigkeiten der Nationalsozialisten. In der Pogromnacht 1938, in der sein Haus gestürmt, Mobiliar zerschlagen und er selbst für drei Tage inhaftiert worden war, wurde er eines Besseren belehrt. Sein Einwanderungsantrag beim Amerikanischen Konsulat in Stuttgart kam zu spät – alle zur Verfügung stehenden Plätze waren bereits vergeben. Ludwig und seine Frau Rosa wurden im November 1941 über Stuttgart nach Riga deportiert, wo beide ermordet wurden.

Rosa und Ludwig Levi. Ihr Wohn- und Geschäftshaus in der Hauptstraße 20 wurde um das Jahr 2000 abgebrochen. Foto: Sammlung Dieter Gaa.

Das im Jahr 1941 konfiszierte und unter der Verwaltung des Finanzamts Heilbronn stehende elterliche Anwesen in der Hauptstraße 20 wurde Lotte Levi 1946 zurückerstattet. Sie ließ es daraufhin verkaufen, um das Jahr 2000 wurde es von der Gemeinde Talheim abgebrochen. Lotte hatte zwar einmal, um 1980, an einem Besuchsprogramm der Stadt Heilbronn teilgenommen, sie kehrte aber nicht mehr nach Talheim zurück. Sie hielt intensiven brieflichen Kontakt mit ihrem Schulkameraden Erich Reim und ab 2006 mit dem Ortshistoriker Dieter Gaa. Das Gemeindearchiv Talheim verwahrt rund 100 Briefe von Lotte. Dem Archiv hat sie auch die Ordensspange ihres Vaters Ludwig Levi zur Aufbewahrung übergeben.

Ordensspange des Ludwig Levi. Gemeindearchiv Talheim. Foto: Dieter Gaa.

Wirtschaftliche Betätigung

Zahlreiche Handels- und Gewerbebetriebe jüdischer Eigentümer bestanden noch nach 1933; unter anderem sind folgende bekannt: Öl-, Fett-, Woll- und Trikotagenhandel Josua Hirschfeld (Lange Gasse 1), Manufakturwarengeschäft Ludwig Levi (Hauptstraße 20), Viehhandlung Berthold Löwenthal (Hauptstraße 39), Metzger Isak Manasse (Seligmanns Sohn; Schozacher Straße 2), Vieh- und Rauchwarenhandlung Isak Manasse (Abrahams Sohn; Gartenstraße 14), Vieh- und Rauchwarenhandlung Julius Manasse (Gustavs Sohn; Hauptstraße 15), Pferde-, Vieh- und Rauchwarenhandlung Julius Manasse (Abrahams Sohn; Gartenstraße 12), Metzgerei und Viehhandlung mit Gastwirtschaft „Löwen“ Julius Manasse (Moses Sohn; Hauptstraße 9, abgebrochen), Weinhandlung Louis Manasse (Bergstraße 4), Viehhandlung Max Manasse (Hauptstraße 12), Viehhandlung Moritz Manasse (Hauptstraße 46) und Manufakturwarenhandlung Herbert Wertheimer (Hauptstraße 10).

Familie Manasse, Gartenstraße 14

Dies ist eines der größten und eindrucksvollsten Häuser in Talheim, das sich im Besitz einer jüdischen Familie befand. 1914 nach einem Brand wieder neu aufgebaut, gehörte es 1936 dem Vieh- und Rauchwarenhändler Isak Manasse (geb. 1870) und seiner 1880 geborenen Frau Karoline geborene Sichel. Das Paar hatte vier Kinder: Selma (geb. 1908), Milton (geb. 1909), Alfred (geb. 1911) und Arnold (geb. 1919).
Nachdem Milton bereits Anfang 1937 nach Amerika ausgewandert war, sorgte er dafür, dass seine Eltern und alle seine Geschwister eine Bürgschaftserklärung erhielten und nach Amerika einwandern konnten. Mit 69 Jahren waren Isak und seine 10 Jahre jüngere Frau die ältesten jüdischen Auswanderer aus Talheim.
Wie der Enkel Jeff Manasse bei einem Besuch in Talheim im Jahr 2006  berichtete, lebten Isak und Karoline, die weder Englisch konnten noch einen Beruf ausübten, in den Familien von Selma und Alfred in New York. Isak verstarb dort 1958 mit 88 Jahren, seine Frau zwei Jahre später, ebenfalls in New York.

Ehemaliges Wohnhaus von Isak Manasse, Gartenstraße 14. Foto: Dieter Gaa.

Familie Wertheimer, Hauptstraße 10

Max Wertheimer (geb. 1856) erwarb Ende des 19. Jahrhunderts das Haus Hauptstraße 10. Er war ein Enkelsohn von Moses (geb. 1756) und Lea Wertheimer (geb. 1772), die zu den ersten acht Familien gehörten, die bis 1800 aus Horkheim nach Talheim gekommen waren. Das Haus wechselte an Max Wertheimers Sohn Herbert (geb. 1891) und Familie. Herbert war neben Ludwig Levi der zweite Stoffhändler Talheims. Er hatte eine taubstumme Tochter Luzy (geb. 1928), die regelmäßig nach Freudental in die Schule gefahren wurde.
Nachdem Herberts drei Geschwister schon in den 1920er-Jahren nach Belgien ausgewandert waren, verließ er mit seiner Frau Sidonie und Tochter Luzy 1938 Talheim und wanderte über Belgien nach Amerika aus. Von der Familie Wertheimer haben mindestens 13 Mitglieder im Laufe von knapp 70 Jahren Talheim verlassen. Spuren der Familie findet man vor allem auf dem jüdischen Friedhof in Sontheim, wo acht Familienmitglieder bestattet wurden.

Ehemaliges Wohnhaus von Max Wertheimer bzw. seinem Sohn Herbert, Hauptstraße 10. Foto: Dieter Gaa.

Familie Manasse, Schozacher Straße 2

Das Gebäude neben dem Gasthaus „Krone“ wurde 1988 abgebrochen. Die Geschichte der Viehhandels- und Metzgersfamilie Isak Manasse ist jedoch ein Paradebeispiel jüdischen Lebens und jüdischen Schicksals im 20. Jahrhundert. Isak Manasse (1879–1944) war der einzige jüdische Metzger Talheims. 1937 wurde ihm der Viehhandel verboten und 1938 seine Metzgerei geschlossen. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, musste er 1938 sein Haus verkaufen. 1939 verstarb seine Frau Mina; sie wurde als letzte Talheimer Jüdin noch auf dem jüdischen Friedhof in Sontheim bestattet – ohne Grabstein, nur mit bescheidener Grabplatte.

Ehemaliges Wohnhaus und Metzgerei des Isak Manasse, Schozacher Straße 2. Foto: Dieter Gaa.

Im Juli 1941 wurde Isak Manasse zusammen mit fünf weiteren jüdischen Mitbürgern zum Straßenbau auf dem Haigern zwangsverpflichtet. Dort arbeitete er knapp ein Jahr. Danach kam er im Rahmen der zweiten Deportation Talheimer Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt. Ermordet wurde er am 23. August 1944 in Auschwitz.
Seine vier Kinder konnten alle zwischen 1936 und 1939 emigrieren. Martha (geb. 1914) und Ilse (geb. 1916) emigrierten nach England, Siegfried (geb. 1912) und Benno (geb. 1919) über England nach Amerika. Benno kehrte 1945 als amerikanischer Soldat zu einem Kurzbesuch nach Talheim zurück, insbesondere um die ehemaligen Nachbarn Leitz im Gasthof „Anker“ in der Schozacher Straße zu besuchen. Deren in den 1920er-Jahren nach Amerika ausgewanderten Kinder hatten Siegfried und Benno eine Bürgschaftserklärung besorgt, sodass diese noch rechtzeitig nach Amerika auswandern konnten.

Die Zeit des Nationalsozialismus

1933 hatte Talheim noch 90 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, von denen bis 1939 40 auswanderten. 15 Gemeindemitglieder verstarben eines natürlichen Todes und sind auf dem jüdischen Friedhof in Sontheim bestattet. Insgesamt 35 Jüdinnen und Juden wurden in drei Deportationswellen nach Riga, Theresienstadt und Auschwitz deportiert und dort ermordet.

An die Talheimer jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnern seit 2006 zwei Tafeln im Burghof, die die evangelische und die katholische Kirchengemeinde anbringen ließen. Foto: Dieter Gaa.

Die Deportationen erfolgten per Kleinbahn oder Lastwagen nach Heilbronn, von dort aus mit Güterwagen zum Stuttgarter Hauptbahnhof und weiter mit Fahrzeugen in ein Sammellager auf dem Killesberg, wo Sammeltransporte zu den Vernichtungslagern im Osten zusammengestellt wurden. Der Weg der Opfer der ersten Deportation vom Dezember 1941 führte zumeist ins KZ Jungfernhof bei Riga, die Deportierten des zweiten Transports vom Mai 1942 kamen in die Konzentrationslager Theresienstadt, Izbica und Auschwitz. Das Ziel der letzten Deportierten vom Dezember 1942 ist unbekannt. Vor Beginn der Deportationen war bereits eine Person ins KZ Buchenwald verschleppt worden und dort zu Tode gekommen. An die 35 ermordeten Jüdinnen und Juden erinnern seit 2006 zwei Gedenktafeln an der ehemaligen Synagogenwand im Burghof.

Isak und Karoline Manasse, Vieh- und Rauchwarenhandlung, Gartenstraße 14. Foto: Sammlung Dieter Gaa.
Isak Manasse, Viehhändler und Metzger, Schozacher Straße 2. Foto: Sammlung Dieter Gaa.
Ehemaliges Wohnhaus des Viehhändlers Max Manasse, Hauptstraße 12. Er organisierte seinen Viehhandel bereits in den 1920er-Jahren mit Lastwagentransporten. Sein Aktionsradius soll daher bis zum Viehmarkt nach Ellwangen gereicht haben. Foto: Petra Schön.
Ehemaliges Manufakturwarengeschäft Ludwig Levi, Hauptstraße 20. Foto: Sammlung Dieter Gaa.
Ehemalige Viehhandlung des Moritz Manasse, Hauptstraße 46. Foto: Petra Schön.
Ehemalige Weinhandlung des Louis Manasse, Bergstraße 4. Foto: Petra Schön.
Ehemaliger Öl-, Fett-, Woll- und Trikotagenhandel Josua Hirschfeld, Lange Gasse 1. Foto: Petra Schön.
Ehemalige Viehhandlung Berthold Löwenthal, Hauptstraße 39. Foto: Petra Schön.
Grabstein des Machol Hirsch aus Talheim. Jüdischer Friedhof Sontheim. Foto: Margrit Elser-Haft.
Grabstein für Jette Manasse aus Talheim, gest. am 20.12.1864. Jüdischer Friedhof Sontheim. Foto: Margrit Elser-Haft.

Literatur

ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn 1986, S. 230–235.
Artikel zu Talheim auf der Internetseite der Alemannia Judaica; Link öffnen [Abruf am 20.12.2022].
HAHN Joachim / KRÜGER Jürgen, Synagogen in Baden-Württemberg. Teilband 2, Orte und Einrichtungen von Joachim Hahn. Hrsg. von Rüdiger Schmidt, Badische Landesbibliothek, Karlsruhe, und Meier Schwarz, Synagogue Memorial, Jerusalem. Stuttgart 2007, S. 472–475.
NEBEL Theobald / DÄSCHLER-SEILER Siegfried, Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Talheim. Ein Beispiel für das Schicksal des Judentums in Württemberg. Hrsg. von der Gemeinde Talheim, 2., neubearb. Aufl. Talheim 1990.
SAUER Paul, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale, Geschichte, Schicksale. Hrsg. von der Archivdirektion Stuttgart, Stuttgart 1966, S. 173–176.