Die jüdische Gemeinde Affaltrach
1851 wurde die neue Synagoge in der Unteren Gasse eingeweiht. Sie vereinigte erstmals die Bedürfnisse der jüdischen Gemeinde unter einem Dach und bot Platz für den Betsaal, ein Klassenzimmer, ein Gästezimmer, die Vorsängerwohnung und die Mikwe (Ritualbad) im Untergeschoss. Ein erster Entwurf für ein sehr viel imposanteres Bauwerk wurde aus Kostengründen nicht realisiert. An der Finanzierung hatte sich auch die jüdische Gemeinde Eschenau zu beteiligen, die seit 1832 Affaltrach zugeordnet war.
Schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts sind Jüdinnen und Juden in Affaltrach nachgewiesen. Sie wurden vom Johanniterorden aufgenommen, der sich die Herrschaft über den Ort mit Württemberg teilte. Die Anzahl wuchs kontinuierlich, bis im Jahr 1858 mit 219 Mitgliedern bei einer Gesamteinwohnerzahl von ca. 1.000 ein Höchststand erreicht wurde. Danach zogen viele in größere Städte oder wanderten nach Amerika aus. Die jüdischen Familien lebten in der Unteren Gasse bei der Synagoge sowie in angrenzenden Straßen. Mit den Geschwistern August und Bertha Thalheimer entstammten zwei außergewöhnliche Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde. Beide waren in der Arbeiterbewegung aktiv. Der aus Freudental stammende Lehrer Samuel Spatz wirkte an der jüdischen Schule in Affaltrach, bis diese 1904 geschlossen wurde. Für seine Verdienste ernannte ihn die Gemeinde zum Ehrenbürger.
Spätestens mit der Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten wurde das gesellschaftliche Klima im Ort vergiftet. Geschäfte jüdischer Bewohner wurden gemieden, und Spitzel beobachteten, welche nichtjüdischen Personen Kontakte zu diesen pflegten. In der Pogromnacht 1938 wurde die Innenausstattung der Synagoge zerstört, das Gebäude aber nicht angezündet. Zu diesem Zeitpunkt wohnte auch die jüdische Familie Bogdanow mit ihrer kleinen Tochter im Gebäude. Deren Einrichtung wurde am Nachmittag des 9. November zerstört; Wertgegenstände wurden gestohlen. Fünf Affaltracher Jüdinnen und Juden fielen dem nationalsozialistischen Genozid zum Opfer.
Weiterführender Text
Synagoge und Gemeindeleben
Der Neubau des Synagogengebäudes in der Unteren Gasse war notwendig geworden, weil die jüdische Gemeinde Affaltrach stark angewachsen war. Hinzu kam, dass der jüdischen Gemeinde 1832 die im benachbarten Dorf Eschenau lebenden Jüdinnen und Juden organisatorisch zugeordnet worden waren. So musste die vergrößerte Kirchengemeinde Affaltrach ausreichend große Räume für die Gläubigen beider Orte zur Verfügung stellen. Zunächst erweiterte man die bestehende Synagoge, die ebenfalls in der Unteren Gasse gelegen war. Schon um diese Zeit war die Idee eines Neubaus aufgeworfen worden. Eine Entscheidung kam aber nicht zustande, da die jüdische Gemeinde Eschenau die geforderte Kostenbeteiligung zunächst verweigerte und auf ihre eigene kleine Synagoge verwies, in der sie „provisorische Filial-Gottesdienste“ abhalten durfte. Erst als das Affaltracher Synagogengebäude immer baufälliger wurde und schließlich 1844 wegen Einsturzgefahr geschlossen werden musste, kristallisierte sich ein Neubau als beste Lösung heraus.
Am 28. November 1851 wurde die neue Synagoge eingeweiht. Dies wurde mit einem Fest im gesamten Ort gefeiert, zu dem auch die christlichen Nachbarn eingeladen waren. Überhaupt stand die jüdische Gemeinde in regem Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft in Affaltrach. Unter anderem arbeiteten christliche Dienstmädchen in jüdischen Haushalten, und jüdische Männer saßen und tranken gemeinsam am Stammtisch mit christlichen Männern. Trotzdem blieben die Affaltracher Juden und Christen ihrer jeweiligen Religion treu – konfessionelle Übertritte sind nicht bekannt.
Samuel Spatz
Von einem friedlichen Zusammenleben zwischen Christen und Juden zeugt auch der langjährige Lehrer Samuel Spatz, der im Ort wirkte, bis die jüdische Schule 1904 geschlossen und Spatz nach Rexingen versetzt wurde. Ausschlaggebend waren die niedrigen Schülerzahlen gewesen – nach der Blütezeit der jüdischen Gemeinde um die Mitte des 19. Jahrhunderts lebten um 1900 nur noch 59 Jüdinnen und Juden im Dorf. Spatz war 1899 bei der Weihe der katholischen Kirche zugegen. Der vielseitig interessierte Lehrer verfasste für Affaltrach auch einen sogenannten Konferenz-Aufsatz, worin er Sitten, Bräuche oder Volkslieder der örtlichen christlichen und jüdischen Bevölkerung festhielt.
Konferenz-Aufsatz Affaltrach
Die Konferenzaufsätze sind das Ergebnis des ersten volkskundlichen Großprojekts in Württemberg. Unter Führung von Karl Bohnenberger begann die „Württembergische Vereinigung für Volkskunde“ gleich nach ihrer Gründung mit einer landesweiten Bestandsaufnahme. In Zusammenarbeit mit dem Statistischen Landesamt sowie der Kirchen- und Schulverwaltung erging im Herbst 1899 ein „Aufruf zur Sammlung volkstümlicher Überlieferungen“, verbunden mit einem Fragenkatalog, der an alle württembergischen Gemeinden verschickt wurde. Die Beantwortung übernahmen meist die Volksschullehrer. Die Konferenz-Aufsätze sind zu einer wertvollen Quelle für die volkstümliche Überlieferung geworden.
...
Darüber, daß sich in Affaltrach so viele
beschnittene und unbeschnittene Juden
befinden, welche handelnd oder bettelnddurch die Umgegend heimsuchen!
Wenn die angeführten ge-
schichtlichen Thatsachen schon eine reiche Aus-
beute an volkstümlicher Überlieferung
wohl nicht ermöglichen, so darf ich nicht
verschweigen, daß es mir als israelti.
Lehrer unmöglich ist, das Wenige,
welches vorhanden sein dürfte, aufzu-
finden, da ich doch nicht die wünschenswerten Beziehungen
zu dem Reil der Bevölkerung habe,
der die Überlieferung am treuesten ge-
wahrt hat.
Hingegen ist es mir gelungen,
die Sitten und Gebräuche bei der jüd.
Bevölkerung aufzuzeichnen. Ich habe
dabei alles Semitische ausgeschaltet u.
nur Überlieferungen, die dem ger-
manischen Gedankenkreise angehören,
aufgenommen. Und da mag nun
die Thatsache überraschen, daß manch
alter Gebrauch, der bei den germa-
nischen Deutschen verschwunden ist,
von den semitischen Deutschen erhalten
wourden ist. Diese Thatsache wird erklär-
lich, wenn wir in Betracht ziehen, daß
zahlreiche Juden schon zur Römerzeit in
Südwestdeutschland sich ansiedelten. Die
alten Germanen sahen in den Juden
Feinde der Römer u. behandelten des-
halb die Juden freundlich. Diese nahmen
im Verkehr mit den Germanen Sitten u.
Gebräuche derselben an. Das eindringende
Christentum dagegen nahm den zielbe-
wußten Kampf mit dem alten germa-
nischen Heidentum auf u. in diesem Kampf
wurden zahlreiche Gebräuche, die in der
Mythologie der alten Germanen ihren
Ursprung hatten, vermischt oder gar
vernichtet, während die Juden diese
Gebräuche ruhig weiter übten.
(S. „Hale Kreisch“, „bekrasen“ etc.)
…
...
Dieser Gebrauch wird nur von den süd-
deutschen Juden geübt. (In Süddeutschland
kamen die Juden mit den heidnischen
Germanentum in Berührung.)
...
Bei den hies(igen) Evangelischen sind die
Namen Christian, Friedrich, Johann, Jakob,
Karl vorherrschend, bei den Katholiken
trifft man die Namen Josef, Franz, Eugen,
Anna, Maria, Josefa, Veronika häufig.
Die Juden der jüngsten Generation haben
moderne deutsche Namen. Früher waren
biblische Namen u. solche wie Hirsch, Herz
(hercze = Hirsch), Bär, Löb, Wolf, Tau...
Veigele, Schönle, Schönische = (Schönchen), Hänle,
Händle, etc. beliebt.
Bei den Christen erhalten die Kinder
Namen nach den Paten, bei den Juden
nach den verstorbenen nächsten Verwand-
ten.
…
...
Bei den Juden
ist es Sitte, daß Braut und Bräutigam
je in besonderem Zuge zum Gotteshause
ziehen und sich erst vor dem Altar treffen.
...
…
Bei den Juden
ist es Sitte, daß Braut und Bräutigam
je in besonderem Zuge zum Gotteshause
ziehen und sich erst vor dem Altar treffen.
…
Auch das Osterbrot (die Mazoth)
der Juden sollen im Hause aufbewahrt,
ein vorzügliches Mittel gegen Blitz- u.
Hagelschlag sein. Auch Christen ver-
schaffen sich deshalb dieses Mittel.
...
Wirtschaftliche Betätigung und gesellschaftliches Engagement
Wie muss man sich das Leben und die Berufe der jüdischen Bewohnerschaft in der Ortschaft vorstellen? Jüdinnen und Juden in Affaltrach waren zumeist Besitzer kleiner Läden, welche alle möglichen Waren und auch Vieh verkauften. Somit ergaben sich geschäftliche und freundschaftliche Kontakte zur christlichen Mehrheitsbevölkerung. Jene waren im Durchschnitt gleich wohlhabend wie ihre Nachbarn, wie wir durch eine Steuereinschätzung aus dem Jahr 1839 wissen. Nur zwei der 21 geprüften jüdischen Männer waren wohlhabender.
Weltkriege und Nationalsozialismus
Wie ihre christlichen Mitbürger waren auch jüdische Deutsche bereit, im Ersten Weltkrieg zu kämpfen. Die beiden jüdischen Affaltracher David Kaufmann und Heinrich Levi fielen auf den Schlachtfeldern für ein Deutschland, welches Juden nach dem verlorenen Krieg zunehmend ausschloss. Ihr Einsatz wird auf dem Kriegerdenkmal auf dem jüdischen Friedhof in Affaltrach gewürdigt. Auch das „Unseren Tapferen“ gewidmete, 1923 geschaffene Ehrenmal der politischen Gemeinde führte die beiden Gefallenen auf. Eine neue Welle des Antisemitismus machte in der Zwischenkriegszeit aber auch vor Affaltrach nicht Halt. So beschloss der Gemeinderat 1933, die Namen der zwei jüdischen Gefallenen aus dem Kriegerdenkmal herausmeißeln zu lassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese wieder in die Steinplatte eingefügt, die inzwischen Bestandteil eines Ehrenmals für die Opfer beider Weltkriege ist und auf dem Friedhof in Affaltrach steht.
Die Synagoge hat die Zeit des Nationalsozialismus äußerlich nahezu unbeschadet überstanden, wenn auch die Innenausstattung im Novemberpogrom des Jahres 1938 verwüstet wurde. Das Gebäude diente zur Unterbringung von Kriegsgefangenen, zu Wohnzwecken und als Lager, bis es 1986 vom Landkreis Heilbronn erworben wurde. Dieser hat es vor dem Verfall bewahrt und nach den alten Plänen wiederhergestellt und dort ein Museum eingerichtet.
Quellen und Literatur
Ungedruckte Quellen:
Gemeindearchiv Obersulm / Ortsarchiv Affaltrach AA 220; Fotosammlung Nr. 2862
Kreisarchiv Heilbronn A 3 Nr. 7822 a; Konferenzaufsätze
Staatsarchiv Ludwigsburg F 213 I Bü 81
Literatur:
ANGERBAUER Wolfram / FRANK Hans Georg, Jüdische Gemeinden in Kreis und Stadt Heilbronn (= Schriftenreihe des Landkreises Heilbronn 1). Heilbronn 1986, S. 17–24.
Artikel zur Synagoge Affaltrach auf der Internetseite der Alemannia Judaica; Link öffnen [Abruf am 09.07.2021].
Artikel zum Jüdischen Friedhof in Affaltrach auf der Internetseite der Alemannia Judaica; Link öffnen [Abruf am 09.07.2021].
Artikel zum Museum Synagoge Affaltrach und Freundeskreis ehemalige Synagoge Affaltrach e. V. auf der Internetseite der Alemannia Judaica; Link öffnen [Abruf am 09.07.2021].
HAHN Joachim / KLOTZ Richard / ZIEGLER Hermann, Pragfriedhof, israelitischer Teil (Friedhöfe in Stuttgart 3). Stuttgart 1992, S. 201.
HAHN Joachim / KRÜGER Jürgen, Synagogen in Baden-Württemberg. Teilband 2, Orte und Einrichtungen von Joachim Hahn. Hrsg. von Rüdiger Schmidt, Badische Landesbibliothek, Karlsruhe, und Meier Schwarz, Synagogue Memorial, Jerusalem. Stuttgart 2007, S. 357–360.
HAHN Joachim / KLOTZ Richard / ZIEGLER Hermann, Friedhöfe in Stuttgart: 3. Band. Pragfriedhof: Israelitischer Teil. Stuttgart 1992.
Museum zur Geschichte der Juden in Kreis und Stadt Heilbronn: Katalog. Hg.: Landkreis Heilbronn. Konzeption und Bearbeiter: Wolfram ANGERBAUER. Heilbronn 1989.
RITTER Martin, Affaltrach – Eine katholische Pfarrei. Hrsg. von der Katholischen Kirchengemeinde St. Johann Baptist Affaltrach. Affaltrach 1999, S. 141.
RITTER Martin, Die jüdische Gemeinde Affaltrach. Affaltrach 2017.
RITTER Martin, Die Synagoge in Affaltrach (= Freundeskreis ehemalige Synagoge Affaltrach e. V. 4). Affaltrach 2001.
RITTER, Martin, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Affaltrach. In: Obersulm. Sechs Dörfer – eine Gemeinde. Herausgegeben von der Gemeinde Obersulm, Obersulm 1997, S. 324–335.